Cluster 2: Wahrnehmung und Identität: Kulturelle Transformation und (historische, ästhetische, moralische und politische) Bildung
des Schwerpunktbereichs "Wahrnehmung: Episteme, Ästhetik, Politik"
Unter Realbedingungen menschlichen (Zusammen-)Lebens ist Identitätsbildung weder eine selbsterklärende noch eine unumstrittene Zielsetzung. Im vorliegenden Forschungskontext interessiert Identität als ein ambivalentes und häufig – individuell wie auch kollektiv – unbewusstes Ziel, das vielfältigen Hindernissen, Konflikten und Formen des Scheiterns ausgesetzt ist. Insofern steht das geistes- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse mit Bezug auf Identität vorweg unter einem kritischen Vorzeichen: es ist mit Identität als uneindeutig, formbar und fragwürdig befasst; mit Identität unter Bedingungen ihrer permanenten Herausforderung und Revision.
Als Konzept ist Identität demnach wandelbar und wandlungsbedürftig. Identität hat und beeinflusst Geschichte, ist nur in ihrem Gewordensein in spezifischen Zeit- und Raumstrukturen, in ihrer Historizität letztlich zu verstehen. Die Cluster 2-Gruppe arbeitet daran sowohl mit Blick auf individuelle Bewusstseinsleistungen und -fehlleistungen als auch mit Blick auf kollektive Identitätsbildungen und -kämpfe und deren kulturell-transformatorischen Wirkungen in den verschiedenen Vergangenheiten, Gegenwarten und möglichen Zukünften. In allen Kontexten interessiert die Frage, wie Individualisierungs- und Gruppenbildungs- bzw., allgemein, Subjektivierungs- und Sozialisierungsprozesse ineinander verzahnt sind und inwiefern die Erforschung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Identität dazu beitragen kann, diese Zusammenhänge besser zu verstehen.
Der Fokus auf Wahrnehmung und Identität soll insbesondere dazu dienen, den Konnex zwischen Wahrnehmungsleistungen (gemäß dem erweiterten Verständnis von „Wahrnehmung“) und den Problemkomplexen Lernen und Bildung aus einer multiperspektivischen, inter/transdisziplinären Sicht näher zu beleuchten und zu analysieren. Dies ist absehbar sowohl ergiebig für spezielle Forschungsfragen und -felder wie auch eine unverzichtbare Grundlage, um vom Standort eines geisteswissenschaftlichen Fächerkanons einen zeitdiagnostisch-kritischen Blick auf die Rahmenbedingungen und sozialen Dynamiken unserer gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur zu entwickeln.
Zu den hier relevanten Auseinandersetzungen gehört, nach den Implikationen des aktuellen identitätspolitischen Diskurses mit Bezug auf Idee und Methodenkonzept wissenschaftlicher Forschung zu fragen. Dass dies einer rückblickenden Neubewertung ähnlich gelagerter Diskurse im 20. Jahrhundert (z. B. um die Tatsachen / Werte-Dichotomie und die von Max Weber lancierte These einer wertneutralen Wissenschaft) bedarf, steht außer Frage und bestätigt die Relevanz (wissenschafts-)historischer Untersuchungen.
Cluster 2 gliedert sich thematisch in zwei Subgruppen, die sich a) im Rahmen eines phänomenologischen Intentionalitätskonzeptes mit Individualisierungsprozessen im Bewusstsein (Formen, Hindernisse, Strategien der Identitätssuche qua Sinnkonstitution) und b) mit Prozessen kultureller Transformation durch und in variablen Medien (Kunstobjekte, Sprache, literarische Texte) befassen. Die Zuordnung ist nicht als exklusiv verstanden, sondern als wechselseitig durchlässige Schwerpunktsetzungen im übergreifenden Themenfeld Selbst / Anderer, Selbstwahrnehmung / Fremdwahrnehmung, Individualisierung / Sozialisierung, wahrnehmende / imaginäre Sinnbildung, Bewusstes / Unbewusstes. Entsprechend wird das Leitthema Wahrnehmung und Identität nicht statisch, sondern prozessual, sowohl in seiner historischen und kulturellen Dimension als auch in seiner philosophischen Grundlegung und existenziellen Bedeutung aufgefasst. Im Fokus stehen insbesondere Bruchlinien und Diskontinuitäten, Gefährdungen und verschiedene Formen des ambivalenten Scheiterns / Gelingens in den zugehörigen Sinnbildungsprozessen (z. B. individuelle Strategien der Dissonanzbewältigung mit Hilfe von Selbsttäuschungen; nicht-intendierte und womöglich paradoxe Effekte kollektiver und individueller Identitätspraktiken). Gemäß diesem Zugang bezeichnet „Identität“ auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene (Gesellschaften, Nationen, Kulturen) eine stets unabgeschlossene, fragile, kontextsensitive und vielfach imaginär überformte Sinnbildung. Selbst(er)findung und Selbstüberschreitung sind untrennbar verknüpft und spielen ineinander.
Exemplarische Forschungsthemen im Überblick:
- Ensemblebildungen in bildender Kunst und Architektur als sinnstiftendes Medium der Historiografie (Julian Blunk)
- Burgeoning Selves: Transatlantic Dialogue and Early American Bildungsliteratur, 1776-1860 (Stefan Brandt)
- Die Mehrheitsgesellschaft als Mithörer. Selbst- und Fremdwahrnehmung kultureller Transformation in plurilingualen Kontexten (Jennifer Brunner)
- Self-signaling in agency and moral psychology (Denis Džanić)
- Selbstwahrnehmung von Personen und Selbsttäuschung. Psychoanalytische und phänomenologische Konzeptionen der Verdrängung und Explikation (Bernhard Geißler)
- Anderssein und Anderswerden. Identitätsentwürfe als Bildungsgeschichte(n) des Historischen (Christian Heuer)
- Emotionale Selbstbewertung. Zur Dynamik von Fremd- und Selbstwahrnehmung am Beispiel von Stolz und Hochmut (Sonja Rinofner-Kreidl)