Cluster 3: Wahrnehmung im Kontext: Faktoren, Einflüsse und Manipulation von Wahrnehmung
des Schwerpunktbereichs "Wahrnehmung: Episteme, Ästhetik, Politik"
Den Ausgangspunkt der Forschungen in Cluster 3 bildet eine Definition von Wahrnehmung, die, auf sinnlicher Erfahrung basierend, zugleich aber auch einen erweiterten Horizont von Bewertung, Urteilsbildung und Kritik umfasst. Dieser Ansatz soll in den einzelnen Themenbereichen im Kontext von ästhetischen Normen und Wahrheitsansprüchen, von Meinungsbildung und Handlungsoptionen entfaltet und konkretisiert werden. Denn es ist davon auszugehen, dass im Sinne einer geisteswissenschaftlichen, interdisziplinär geprägten Untersuchungsweise erst ein in diesem Sinne erweitertes Verständnis von Wahrnehmung geeignet ist, in jeweils kontextabhängigen Problemfeldern spezifische Facetten, Aspekte und Komponenten von Wahrnehmung in den Vordergrund zu stellen, zu erschließen und in ihrem Zusammenwirken sichtbar zu machen. Die Kategorien Erfahrung und Wahrheit fungieren dabei als Transferthemen, die auch clusterübergreifend bearbeitet werden.
In einer ersten Ertappe der Forschungsarbeit soll die Begriffskonstellation Wahrnehmung, Kommunikation und Kritik in Kunst und gesellschaftspolitischen Diskursen als übergreifende Klammer dienen. Dabei ist die zentrale Forschungsfrage: Warum, wie und mit welchem Effekt werden Wahrnehmungen durch (Kommunikations) Strategien, bestimmte Muster, Normen, Ambivalenzen, Vorurteile oder auch Algorithmen etc. (de)konstruiert und manipuliert?
Wie trägt Kunst angesichts der digitalen Transformation zur Veränderung der Wahrnehmung bei bzw. dieser Rechnung? Wie stellt Kunst Wahrnehmung (kritisch) zur Diskussion? Wie trägt Kunst zu kritischer Wahrnehmung der Wirklichkeit im Besonderen durch Einbeziehung sinnlichen, nonverbalen Ausdrucks bei? Wie äußert sich Wahrnehmung des Menschen und der Natur in der Kunst? Welche Formen von kritischer und ästhetischer Urteilsbildung sind von gesellschaftspolitischer Relevanz? Diese und ähnliche Fragen werden im Themenbereich Wahrnehmung im Kontext der Kunst zunächst in drei Sektionen bearbeitet: 1. künstlerische Wahrnehmung als Ausdruck von Kritik; 2. Wahrnehmung in (historischen) kunstkritischen Diskursen; 3. Kunst als mögliches Experimentierfeld für kritische Wahrnehmung.
Ein weiterer Themenbereich widmet sich dem oft diffusen Gebrauch von „Naturalismus“ in der bildenden Kunst. Anhand ausgewählter Beispiele aus verschiedenen Zeiten und kulturellen Zusammenhängen wird untersucht, auf welche Weise ästhetische Eigenschaften und Strategien, wie die detailreiche Wiedergabe individueller Besonderheiten der Sujets und die dadurch suggerierte Illusion einer momentanen Präsenz als Strategien der Autorisierung, als Erkenntnis- und Wahrheitsversprechen wirksam wurden. Leitende Fragen sind: Inwiefern können so markante und wiederkehrende Implikationen – wie Evidenzerzeugung und Erkenntnis, aber auch Täuschung und Illusion – gerade in ihrer scheinbaren Unvereinbarkeit als spezifische Gefüge naturalistischer Kunst und Bildpraxis erfasst werden? Inwiefern werden dabei (natur)wissenschaftliche Forschung und Konzepte als Begründung herangezogen (oder impliziert), und inwiefern wirkt dies wiederum ein auf Prozesse öffentlicher Meinungsbildung und politischen Handelns?
Die Auseinandersetzung mit Kommunikationsformen, die dazu angetan sind, Wahrnehmung auf problematische Weise zu beeinflussen bzw. manipulieren, ist ein weiterer Schwerpunkt in Cluster 3. Im Fokus steht indirektes Kommunizieren, ein besonders effizientes Mittel, um Wahrnehmung zu manipulieren. So kann es etwa dazu dienen, einen bestimmten Gehalt vor Kritik zu schützen und so zu den Hintergrundannahmen unseres Diskurses hinzuzufügen. Betrachten wir z.B. pejorative Sprache. Mit einer Äußerung wie „Die Piefkes haben sich über die Musik beschwert“ wird mehr kommuniziert als mit „Die Deutschen haben sich über die Musik beschwert“: mit ersterer Aussage wird auch kommuniziert, dass Deutsche verachtenswert sind, mit letzterer nicht. Einer verbreiteten Annahme zufolge werden mit der Verwendung pejorativer Sprache abwertende Gehalte nur indirekt kommuniziert. Da es nicht leicht ist, sich ihnen zu widersetzen, stellt indirektes Kommunizieren ein effizientes Mittel dar, um Wahrnehmung (wie etwa die Wahrnehmung bestimmter Personengruppen) zu manipulieren.
Ein weiteres Themenfeld bilden Alter und Care. Die kritische Auseinandersetzung mit der Identitätskategorie Alter, die – ähnlich wie Gender – als kulturelle Konstruktion interpretiert wird, sowie mit der (un)gerechten gesellschaftlichen Organisation von Care (Care-Arbeit, Sorge tragen) wird als Grundlage für die Ermöglichung eines „guten Lebens“ für alle Lebensphasen gesehen. Folgende Fragen werden bearbeitet: Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen soziodemographischen und -politischen Entwicklungen und der Wahrnehmung des Alterns? Wie werden diese in Literatur und Film erzählt, und wie wirken diese kulturellen Repräsentationen wieder zurück auf die Wahrnehmung dessen, was es bedeutet, „alt“ zu sein? Welche Wahrnehmungen liegen Care-Beziehungen zugrunde? Wie sind diese in fiktionalen Darstellungen thematisiert, (z.B. Wahrnehmung von Leid in Hanekes Amour, um ein bekanntes Beispiel zu nennen…)?
Exemplarische Forschungsthemen im Überblick:
- Wahrnehmung im Kontext der Kunst: Möglichkeiten und Herausforderungen von Kritik in künstlerischer Produktion und Rezeption (Susanne Kogler)
- “Naturalismus“ in der bildendenden Kunst: Evidenzerzeugung und Illusion (Robert Felfe)
- Manipulation von Wahrnehmung durch indirekte Kommunikation (Katharina Felka)
- Die Ästhetik des Alter(n)s: Körper, Vulnerabilität, Care (Ulla Kriebenegg)
- (Musikalische) Improvisation und Ethik (Caroline Gatt)