Die Preisträger:innen des Jahres 2024 im Gespräch
Rutger Guillaume Lazou
1. Preis Dissertationen: "What is Owed to the Losers of the Energy Transition? The Case of Fossil Fuel Reserve Owners"
Sie forschen im Bereich der Klimagerechtigkeit und Umweltethik – nicht alle können sich unter diesen Begriffen etwas vorstellen. Welchen Problemfeldern und Fragen widmet sich dieser philosophische Fachbereich und wie kann er dabei helfen, die Klimakrise zu bewältigen?
Die Klimaethik ist ein relativ junges Gebiet, das als Reaktion auf die beispiellosen, generationenübergreifenden Herausforderungen des globalen Klimawandels entstanden ist. Dies wirft Fragen auf wie die, wie viel Klimawandel wir vermeiden sollten, wie das verbleibende zulässige Kohlenstoffbudget gerecht verteilt werden sollte, was unsere individuelle Verantwortung für die Abschwächung des Klimawandels ist, wie die Pflichten zur Anpassung an den Klimawandel verteilt werden sollten und ob die großen Emittenten für die Verluste und Schäden der Opfer des Klimawandels entschädigt werden sollten. Das Streben nach einem gerechten Übergang, der sich auf einen klaren normativen Rahmen stützt, ist nicht nur um der Gerechtigkeit selbst willen wichtig, sondern erleichtert auch das Gefühl der Fairness und die Wahrscheinlichkeit, dass die Energiewende gelingt.
Sie argumentieren in Ihrer Dissertation „What is Owed to the Losers of the Energy Transition? The Case of Fossil Fuel Reserve Owners“, dass Unternehmen, die Rohstoffe fördern und in Erwartung auf hohe Gewinne auch hohe Investitionen getätigt haben, dafür entschädigt werden sollten, wenn sie auf weiteren Abbau verzichten. Manche würden sich fragen, ob es fair ist, dass wohlhabende Unternehmen Entschädigungen dafür erwarten, unsere Umwelt nicht weiter zu schädigen. Wie passt dieser Gedanke in eine Vorstellung von nicht nur Klima-, sondern auch sozialer Gerechtigkeit?
Ich vertrete die Auffassung, dass Unternehmen in einigen Fällen, in denen Regierungen vorhersehbar und vermeidbar falsche Erwartungen in Bezug auf künftige Vorschriften geweckt haben, eine Entschädigung für die Kosten erhalten sollten, die ihnen durch das Vertrauen auf diese Erwartungen in Form von Investitionen entstanden sind. Hätten die Regierungen diese Erwartungen nicht geweckt, wären ihnen diese Kosten schließlich erspart geblieben. Es ist jedoch nicht gerechtfertigt, sie für ihre Opportunitätskosten zu entschädigen, d. h. für die Vorteile, die sie aufgrund des notwendigen Übergangs zu kohlenstoffarmen Technologien nicht realisieren können. Die Rechte zur Durchführung der verbleibenden zulässigen Produktionen sollten zudem unter den Ländern und nicht unter den Unternehmen aufgeteilt werden, da die Länder die Individuen repräsentieren, die letztlich die moralische Instanz sind. Obwohl die Ansprüche der Unternehmen für fossile Brennstoffe begrenzt sind, ist es wichtig, sie zu berücksichtigen, um einen gerechten Übergang zu realisieren.
Sie sind derzeit als PostDoc am renommierten Philosophischen Institut der Universität Heidelberg tätig. Welchen Fragen der Klimagerechtigkeit und Umweltethik widmen Sie sich dort?
Während meiner Doktorarbeit habe ich festgestellt, dass sich die Literatur sehr stark auf die Frage konzentriert, ob bestehende Erwartungen Maßnahmen wie Bestandsschutz oder Entschädigung rechtfertigen. In meiner aktuellen Forschung an der Universität Heidelberg untersuche ich, welche positiven Pflichten Regierungen haben, um aktiv Erwartungen zu wecken, nicht nur in Bezug auf künftige Vorschriften, sondern auch auf wirtschaftliche und physische Veränderungen. Genauer gesagt untersuche ich, warum sie informieren sollten (um die Planbarkeit für die Bürger zu erhöhen oder weil sie ein Recht auf die Wahrheit haben), welche Informationen sie bereitstellen sollten, ob sie informieren sollten, wenn dies zu Panik führt oder den Erfolg des Übergangs gefährdet, wie man mit Unsicherheiten zukünftiger Veränderungen umgeht, welche Verantwortung die Bürger haben, sich selbst zu informieren, usw.
Eine Zusammenfassung von Herrn Lazous Dissertation findet man im Erasmus Journal for Philosophiy and Economy.
Julia Maria Aigner
1. Preis Masterarbeiten (ex aequo): "Loving, Talking, Being Music: Fan Discourse and Its Role in Identity Construction in Different Music Genres"
In Ihrer prämierten Masterarbeit „Loving, Talking, Being Music: Fan Discourse and Its Role in Identity Construction in Different Music Genres“ beschäftigen Sie sich mit der Frage, wie sich der online Austausch von Musikfans auf ihre Identitätsbildung auswirkt. Dabei beziehen Sie sich auf eine umfangreiche Sammlung von Kommentaren zu YouTube Videos (Korpora von insgesamt über 300.000 Wörter). Nach welchen Kriterien haben Sie Genres und Künstler:innen ausgewählt?
Die Genres – Klassik, Pop und Jazz – wurden ausgewählt, da sie sich einerseits musikalisch und stilistisch so weit von einander unterscheiden, dass grundsätzlich eine Abgrenzung von Präferenzen möglich ist, und andererseits dennoch breit genug gefasst sind, um eine möglichst große Fangemeinde miteinbeziehen zu können. Es ist davon auszugehen ist, dass sich ein größerer Teil der Gesellschaft sehr generell mit breiter gefassten Genres identifizieren kann, was wiederum die gesellschaftliche Relevanz und die Möglichkeit, allgemeinere Schlussfolgerungen zu ziehen, positiv beeinflusst.
Die Künstler:innen in den drei Genres wurden dann basierend auf einer der einflussreichsten und wichtigsten Ranking-Organisationen der westlichen Musikindustrie, nämlich den US-amerikanischen Billboard-Rankings, ausgewählt. Hier wurden für jedes Genre jeweils drei Musiker:innen aus den „Top 10 Artists of the Year“ (2021) zur Auswahl der YouTube-Videos (und der dazugehörenden Kommentar-Bereiche) und der nachfolgenden Analyse herangezogen, wiederum basierend auf unterschiedlichen Faktoren wie beispielsweise der Verfügbarkeit und Beliebtheit auf YouTube oder der Repräsentativität für das jeweilige Genre.
Sie kommen im Rahmen Ihrer Arbeit zum Schluss, dass es – entgegen der langläufigen Annahme – nicht die Abgrenzung zu anderen Musikstilen ist, die identitätsstiftend wirkt, sondern viel mehr das Hervorheben von positiven Qualitäten dieses Stils/dieser Musiker:innen. Ist dies ihrer Meinung nach nur innerhalb von Online-Fan Communities so oder überträgt sich das auch in einen weniger homogenen, nicht-virtuellen Raum?
Zugegebenermaßen war diese Erkenntnis im Rahmen meiner Studie auch für mich überraschend, als wir doch alle schon einmal Sätze gehört haben wie „Das ist viel besser als Pop!“ oder etwa „Mozart ist er keiner.“. Diese beiden Aussprüche würden intuitiv eher darauf hinweisen, dass Musikvorlieben zu deklarieren und die damit verbundene Identitätskonstruktion über das in den Vordergrund rücken von Unterschieden (also, dem Äußern, was einem nicht gefällt oder dem Vergleichen mit etwas, was einem gefällt) und über Abgrenzung passiert. Den Online-Diskurs mit Sprache im nicht-virtuellen Raum zu vergleichen, um zu überprüfen, ob das Hervorheben der positiven Qualitäten der präferierten Musikrichtung auch hier als primäre Strategie zur Identitätskonstruktion angewandt wird – oder ganz generell, eine ähnliche Studie beispielsweise mit Korpora aus Gesprächen zwischen Musikfans durchzuführen - wäre ein unglaublich spannendes Forschungsvorhaben, welches die bisher vorhandene Lücke im Bereich der Forschung zur diskursiven Konstruktion von (Musikfan-)Identitäten noch etwas weiter schließen würde.
Identität bzw. Identitätskonstruktion spielt eine wichtige Rolle in Ihrer Arbeit. Wie definieren Sie Identität bzw. welches Identitätskonzepts bedienen Sie sich in dieser Arbeit und warum?
In meiner Arbeit wird Identität vorranging als ein soziales Konstrukt verstanden. Der Fokus liegt auf Konzeptionen von Identität, welche sich mit der Zuordnung zu sozialen Gruppen oder Kategorien (sogenannten social identity categories oder SICs, also Kategorien, die vorgeben, was oder wie man in einer Gesellschaft sein kann) beschäftigen. Es geht darum, wie solche SICs kreiert werden und wie die eigene Identität dann über die Zugehörigkeit (oder eben „Nicht-Zughörigkeit“) zu den SICs konstruiert werden kann. Dabei können verschiedene SICs unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. In manchen SICs stehen komplementäre, interaktive Beziehungen zwischen Kategorie-Mitgliedern im Vordergrund (bspw. Lehrende und Lernende; syntagmatisch definierte SIC); in anderen SICs liegt der Fokus hingegen auf den Gemeinsamkeiten unter Mitgliedern der Gruppe und dem Kontrast zu und Abgrenzung von anderen außerhalb der Gruppe (z.B. Migräne-Leidende in einem Gesundheits-Forum oder eben (Musik-)Fangruppen; paradigmatisch definierte SIC). Bei der Konstruktion solcher SICs und der eigenen Identität in Bezug auf die SICs spielt Sprache eine zentrale Rolle – das individuelle „Wer bin ich?“ und das kollektive „Was bedeutet es, ein X zu sein?“, kann mitunter durch Diskurs ausgedrückt werden.
Hannah Van Reeth
1. Preis Masterarbeiten (ex aequo): "Über Dynamiken, Dichotomien und Wirklichkeit. Historisch-epistemologische Untersuchungen zu Jörn Rüsens "Grundzüge einer Historik" (1983-1989)"
Sie haben Ihrer Masterarbeit „Über Dynamiken, Dichotomien und Wirklichkeit. Historisch-epistemologische Untersuchungen zu Jörn Rüsens "Grundzüge einer Historik" (1983-1989)" einen charmanten Prolog vorangestellt, in dem Sie von der „allbekannten Unbeliebtheit“ wissenschaftshistorischer Fragestellungen schreiben. Wieso haben Sie sich für Ihre Masterarbeit genau dafür entschieden und worin liegt für Sie der Mehrwert einer historischen Kontextualisierung von geschichtsdidaktischen Werken?
Begriffe, Wörter, aber auch Glaubenssätze im Kontext ihrer Entstehungen zu betrachten hat mich schon immer fasziniert. Es ist interessant, wie Menschen dann darauf reagieren, wenn plötzlich objektiv wirkende Selbstverständlichkeiten in ihren menschlichen Zusammenhang gestellt werden: wenn Politisches und Soziales als mögliche Gründe für die Entstehung und vor allem Etablierung von Ideen und theoretischen Werken im wissenschaftlichen Feld angeführt werden und nicht mehr die beliebte Unantastbarkeit großer Begriffe im Vordergrund wissenschaftlicher Praxis steht. Eine solche Perspektive, die nach den sozialen und politischen Verstrickungen fragt, kann zur Haltlosigkeit führen und entmutigt manchmal, aber sie regt zum Umdenken an.
Ich glaube, es ist vor allem in einem Arbeitsfeld wichtig, in dem andauernd mit „neuen“ Konzepten gearbeitet wird, sich immer wieder über die Voraussetzungen der Darstellungen dieser Gedanken zu machen. Ist die Idee revolutionär, oder wird sie zu einer solchen Idee gemacht? Und wenn ja, wie? Ich glaube dieser Blick kann dafür sorgen, dass man die wissenschaftspolitischen Spannungen gewisser Themen und Trends ein wenig transparenter macht und somit von den ideologischen Spielchen Abstand nehmen kann.
In der Geschichtsdidaktik gab es da offenbar in Bezug zu Jörn Rüsen noch Nachholbedarf. Als mein Betreuer Christian Heuer mir dieses Thema vorschlug, war ich sofort begeistert.
Jörn Rüsens Grundzüge einer Historik gilt als Standardwerk der Geschichtsdidaktik. Im Zuge Ihres sozio-historischen Zugangs legen Sie frei, welche Denkrichtungen und soziale Verstrickungen sein bis heute zitiertes Konzept des „Geschichtsbewusstseins“ prägten. Könnten Sie diesen Begriff und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik erklären?
Das Geschichtsbewusstsein, das zum Forschungsschwerpunkt der geschichtsdidaktischen Disziplin ernannt wurde, ist ein Konzept, das die Prozesse der subjektiven und gesellschaftlich-historischen Sinnbildungsarbeit darlegen soll. Das bedeutet, dass der allgemeine Umgang mit Geschichte in den Vordergrund der Untersuchungen rückt und dass somit nicht die Frage nach der „Vergangenheit“, sondern jene danach, wie in der Gegenwart mit dem Historischen umgegangen wird, im Fokus steht.
Das Geschichtsbewusstsein wurde in den 1970er-Jahren als zentrale Kategorie für die damals noch junge Geschichtsdidaktik gesetzt. Die „Fundamentalkategorie“ Geschichtsbewusstsein ging mit der Entstehung der Disziplin in Deutschland einher und wurde somit schnell zu einem Rechtfertigungsbegriff: Man wollte von der Geschichtswissenschaft als disziplinäre Dimension anerkannt werden und versuchte mithilfe theoretischer Darlegungen diese Anerkennung zu erreichen.
Bis heute gibt es jedoch viele Diskussionen über den Begriff. Während einige das Konzept für veraltet halten, scheinen andere zu befürchten, dass ohne das Geschichtsbewusstsein die Disziplin ihre Existenzgrundlage verliert. Da ist es manchmal schwer zwischen Wissenschaftspolitik und der forschenden Untersuchung der theoretischen Möglichkeiten des Geschichtsbewusstseinskonzepts abzuwägen.
Ihr erster Schritt war es, zu zeigen, wie bedeutsam die Kenntnis und Entwicklung von theoretischen Bezügen und Leitgedanken sowie Begriffen – wie des Geschichtsbewusstseins – innerhalb einer Disziplin für die Entwicklung dieser sind. Haben Sie bereits den nächsten Schritt geplant?
Ich bin gerade dabei herauszufinden, inwieweit Ästhetik mit historischem Lernen in Verbindung steht. Es gibt schon eine paar Ansätze, allerdings würde ich gerne, nachdem ich mich in den letzten zwei Jahren vor allem mit der Frage nach historischem Lernen als Orientierungsinstanz auseinandergesetzt habe, herausfinden, was Unordnung und Unbestimmbarkeit damit zu tun haben. Gibt es Anstöße außerhalb der kognitiven Ordnungsmöglichkeit, welche zum Beispiel beim Konzept des Geschichtsbewusstseins postuliert wird, die für das historische Lernen von Vorteil sein können? Es ist gerade von mir eher ein Versuch diese ästhetische Sphäre, die meiner Meinung nach bei Rüsen zu kurz kommt, ein wenig mehr zu beleuchten und diese im Sinne des historischen Lernens umsetzbar zu machen. Wie Sie merken, entferne ich mich zwar auf den ersten Blick ein wenig von wissenschaftshistorischen Fragestellungen, würde aber behaupten, dass es mehr mit der Frage der Voraussetzungen historischen Denkens zu tun hat, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint.
Antonia Gösweiner
2. Preis Masterarbeiten (ex aequo): "Facial Expressions and Gestures in Second Language Vocabulary Acquisition"
Ihre Masterarbeit beschäftigt sich mit einem Thema, dass alle, die je versucht haben eine neue Sprache zu erlernen, hellhörig werden lässt: einer Methode, Vokabel schneller und effektiver zu lernen. Ein zentraler Begriff dabei ist der „Enactment-Effekt“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Der sogenannte „Enactment-Effekt“ bezeichnet ein Phänomen beim Vokabellernen in einer Fremd- oder Zweitsprache. Dabei werden beim Erlernen/Memorisieren der Vokabel diese nicht nur gelesen, sondern es werden auch zeitgleich Bewegungen mit dem Körper ausgeführt, die die Bedeutung des zu erlernenden Wortes darstellen oder widerspiegeln. Diese Bewegungen werden „ikonische Bewegungen“ genannt. Wenn eine Person beispielsweise Italienisch lernt und sich das Wort „Liebe“ („amore“) einprägen möchte, kann während des Lernprozesses ein Herz mit den Händen geformt werden. Dieser Prozess (Memorisieren und Bewegungen gleichzeitig ausführen) führt dazu, dass man sich neu-erlernte Vokabel besser in Erinnerung hält und einfacher abrufen kann als Wörter, die ohne ikonische Bewegungen erlernt werden. Diesen positiven Effekt von ikonischen Bewegungen auf das Erinnerungsvermögen wird in der Fachliteratur als „Enactment-Effekt“ bezeichnet.
Gehen Sie davon aus, dass die von Ihnen beschriebene Methode des Vokabel-Lernens in Zukunft verstärkt im Sprachunterricht angewendet wird?
Ich hoffe, mit meiner Arbeit einen Beitrag dazu zu leisten, dass Ergebnisse aus der Forschung praxisnah, zielführend und anwendungsorientiert sind. Beim Sprachenlernen ist vor allem der Wortschatzerwerb und das Memorisieren von vielen neuen Wörtern eine Hürde. Deshalb war das Ziel meiner Arbeit, Wege aufzuzeigen, wie dies einfacher gelingen kann. Damit die Methode auch stärker im Sprachunterricht eingesetzt werden kann, ist es notwendig Theorie und Praxis stärker zu verbinden und Erkenntnisse aus der Wissenschaft in Klassenräume zu bringen. Ich hoffe natürlich, dass das auch bei dieser Methode in Zukunft gelingt und Lehrpersonen sowie Lernende die Methode verwenden werden.
KI gestützte Sprachlern-Apps sind kaum noch wegzudenken, ist der Enactment-Effekt etwas, dass auch hier zum Einsatz kommen kann?
Vor allem im Bereich Sprachlern-Apps sehe ich großes Potenzial und Möglichkeiten diese Vokabellernmethode einzusetzen. In der Studie, die ich durchgeführt habe, wurden die Bewegungen von einer „echten“, „realen“ Person mittels Videos vorgezeigt und die Proband:innen wurden aufgefordert die Bewegungen nachzuahmen. Bei Sprachlern-Apps könnten KI-generierte Videos eingesetzt werden, um den Lernenden die Bewegung, das Vokabel und die Übersetzungen zu zeigen. Somit kann man als Lernender die Bewegungen jederzeit alleine durchführen und ist nicht auf ein Klassenzimmer oder eine Lehrperson beschränkt. Dies wäre eine einfache Art und Weise Sprachlern-Apps mit innovativen Ideen auszustatten, effektiver und forschungsbasiert zu gestalten. Außerdem wäre es eine Möglichkeit, wie die Lernmethode in Zukunft stärker eingesetzt werden könnte und Ergebnisse aus der Forschung mehr Personen schneller erreichen könnte.
Eva Present
2. Preis Masterarbeiten (ex aequo): August Klingemanns „Nachtwachen. Von Bonaventura“. Eine Untersuchung zur satirischen Schreibweise und zum Themen- und Motivgeflecht des Romans
In Ihrem Essay zur Masterarbeit plädieren Sie für eine stärkere Beschäftigung mit älteren literarischen Texten jenseits der großen Namen. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit einem sogenannten „literaturwissenschaftlichen Solitär“, August Klingemanns Nachtwachen (1805), zu beschäftigen?
Auf der Suche nach dem Thema für meine Masterarbeit habe ich überlegt: „Welche Texte haben mich beim Lesen fasziniert und viele Fragen offen gelassen? Bei welchen Texten könnte ich mir vorstellen, sie wieder und wieder zu lesen? Und das, ohne dass es langweilig werden würde?“ Mir persönlich waren diese Fragen wichtig, da ich ja eine literaturwissenschaftliche Arbeit schreiben wollte – immerhin beschäftigt man sich über einen langen Zeitraum mit ein- und demselben Text. So kam ich auf die Nachtwachen, die vieles beinhalten, was mich fasziniert: Einen Nachtwächter als Protagonisten, nächtliche Rundgänge durch eine Stadt, die Bissigkeit des Ich-Erzählers, Elemente aus der Romantik und aus der barocken Tradition sowie Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse – und das alles mit einer Eigentümlichkeit, aus der ich zu Beginn nicht so recht schlau wurde. Ich wusste: An den Nachtwachen würde ich lange meine (wissenschaftliche) Freude haben.
Sie schreiben, dass Satire sowie Themen- und Motivgeflecht des Werks – auf eine spezifische, eigentümliche Weise miteinander in Beziehung stehen. Wie kann man sich das vorstellen?
Die Satire bedient sich, so Kurt Wölfel, bestimmter Erzähltechniken, mit deren Hilfe aus einer epischen Welt eine satirische Welt wird. Diese beinhalten beispielsweise den Blick des Satirikers auf die Welt wie auf eine Bühne und weisen generell eine Nähe zum Theater auf. Die kritikwürdigen Missstände sowie der Versuch der Gesellschaft, jene zu verschleiern, missfallen dem Satiriker. Daher ist das Entlarven – das Demaskieren – ein wesentlicher Bestandteil.
Diese Aspekte sind bei Klingemann nicht nur Teil der satirischen Erzähltechnik, sondern er macht u. a. die Maske und das Theater zu wiederkehrenden Themen und Motiven: Diese werden z. B. merklich, wenn die Figuren ihr wahres Wesen nicht nur hinter sprichwörtlichen Masken wie Frömmigkeit und Gerechtigkeit, sondern unter Perücken und Schlafmützen verbergen. Ebenfalls zeigt sich die Verbindung, wenn die Welt in den Nachtwachen zu einem barock anmutendem Theatrum mundi wird oder der Nachtwächter selbst die Rolle des Hamlet spielt.
Klingemann hat seine beißende Gesellschaftskritik noch unter Pseudonym veröffentlicht, etwas, dass heute kaum noch nötig erscheint und doch stellt sich damals wie heute wohl die Frage: Darf Satire alles?
Ich denke, dass die Antwort auf diese Frage sehr individuell ist und dementsprechend vom persönlichen Geschmack der Satire-RezipientInnen abhängt. Es gibt scherzhafte, spöttische Satiren, bei der die Menschen herzlich lachen – auch über sich selbst und die eigenen Verhaltensweisen. Diese Art von Satire ist dann wohl leichter verdaulich. Es gibt aber auch die scharfe Satire, die den Finger in die Wunde legt; Satire, die kontroverse Themen anspricht und wehtut. Diese sorgt, wenn auch oft gewollt, bei manchen Menschen für Missfallen und Empörung. Hier kann der Eindruck entstehen, dass Satire zu weit ginge oder (moralische) Grenzen überschreite. Sowohl scherzhafte, harmlos scheinende wie auch bissige, scharfzüngige Satire sollen ihren Platz haben – sofern die Kritik, die sie üben, gerechtfertigt ist. In diesem Sinne darf Satire, meiner Auffassung nach, alles. Ob man das gut findet oder nicht, bleibt einem allerdings selbst überlassen.
Hanna Wäger
3. Preis Masterarbeiten: Weggewischt? Kulturanthropologische Annäherung an die Un_Sichtbarkeit von Frauen* in der Reinigungsindustrie
Ihre Masterarbeit beschäftigt sich mit der Un_Sichtbarkeit von Frauen* in der Reinigungsindustrie. Was genau versteht man unter diesem Begriff und welche Funktion hat die Sichtbarkeit bzw. die Unsichtbarkeit von Reinigungskräften?
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sind in der Unterhaltsreinigung unmittelbar Teil des Arbeitsalltags – auf unterschiedliche Weise: Zunächst besteht die Tätigkeit selbst darin, Sauberkeit herzustellen, also Schmutz verschwinden zu lassen und ihn damit unsichtbar zu machen. Sichtbar bleibt das, was nicht gereinigt wurde. An diese erste, vielleicht offensichtlichste Facette von Unsichtbarkeit können weitere angeknüpft werden. Die beruflichen Rahmenbedingungen führen dazu, dass Reinigungskräfte körperlich in die Unsichtbarkeit gedrängt werden. Die Arbeitszeiten in der Unterhaltsreinigung sind beispielsweise häufig an die Tagesränder gelegt und minimieren dadurch den Kontakt zu den Kund*innen. Und mit dieser körperlichen Un_Sichtbarkeit sind wiederum gesellschaftspolitische Möglichkeiten verwoben. Sichtbarkeit ist notwendig, um gehört zu werden. Dem gegenüber bringt Sichtbarkeit aber auch Risiken mit sich. Wer öffentlich präsent ist, wer sichtbar ist, macht sich angreifbar.
Zwischen diesen beiden Polen – Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – gibt es zahlreiche Zwischentöne. Mich interessiert besonders dieses Dazwischen, die Grauschattierungen zwischen Schwarz und Weiß sowie deren Wechselwirkungen. Schmutz und Sauberkeit bedingen einander und auch Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sind miteinander verwoben. Mit der Verwendung des Unterstriches möchte ich die beiden Wortteile des Gegensatzpaares auch visuell miteinander in Verbindung setzen und zur Diskussion stellen.
Sie schreiben in Ihrem Essay zur Preiseinreichung: Schmutz ist politisch. Ein Satz, der mir sehr in Erinnerung geblieben ist. Können Sie das genauer erläutern?
Mit diesem Satz möchte ich hervorheben, dass das, was wir als schmutzig bezeichnen, keine allgemeine, universale Gültigkeit hat, sondern kulturell konstruiert und historisch mit Wert aufgeladen wurde. Dabei sind das Ordnen und Trennen von Schmutz und Sauberkeit, von Schlechtem und Guten zentral im gesellschaftlichen Zusammenleben. Es gibt uns Halt und ist in vielen Kulturen von ritueller Bedeutung. Zugleich kann Schmutz als Synonym für Schlechtes zur Rechtfertigung von Abwertung und Ausgrenzung von Personen(-gruppen) ge-/benutzt werden. Diese politische Dimension von Schmutz zeigt sich auch im Berufsfeld der Reinigung. Es gibt kaum eine Branche, der weniger Prestige und Anerkennung zukommt als der Reinigungsindustrie. Menschen, die diese schmutzigen Arbeiten übernehmen, sind häufig marginalisierte Gruppen: Frauen*, Menschen mit Migrationserfahrungen, untere soziale Klassen.
Der oft negativ konnotierten Fremdwahrnehmung widersprechen die Arbeiterinnen* jedoch in ihrer täglichen Praxis: Meine Gesprächspartnerinnen* beschreiben ihre Arbeit als systemrelevant und grundlegend für alle anderen Arbeiten. Das Berufsfeld ist ein Ort, an dem sie Unabhängigkeit und Anerkennung finden können.
Reinigungskräfte zählen zu den systemrelevanten Berufen, die körperliche Belastung ist hoch, die Bezahlung und der soziale Status jedoch nieder. Wie kommt es zu diesem Ungleichgewicht, dieser Ungerechtigkeit?
Es gibt unterschiedliche Dynamiken, die sich hier gegenseitig überlappen und ergänzen. Ein Grund dürfte die oben beschriebene negative Bewertung von schmutziger Arbeit sein. Darüber hinaus ist die historische Entwicklung des Berufsfeldes spannend.
Der Beruf Reinigung galt bereits von seinen Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an als Arbeit, für die keine besonderen Kenntnisse gefordert sind und die dadurch von Menschen ausgeführt werden kann, die auf niedrige Berufseinstiegsschwellen angewiesen sind. Schließlich handelt es sich beim Reinigen um eine zentrale Tätigkeit der Reproduktionsarbeiten im eigenen Haushalt; um Arbeiten, die in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft häufig noch immer als Frauen*-Arbeit abgewertet werden. Die Geschichte der Reinigung als Beruf ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sich männliche* Arbeiter von der mit Weiblichkeit* verbundenen, alltäglichen und scheinbar einfachen Tätigkeit des Putzens abgrenzen wollten.
Darüber hinaus waren es wirtschaftliche Entwicklungen (z.B. Outsourcing-Prozesse ab den 1960er Jahren), die die Konkurrenz und den Preiswettbewerb zwischen einzelnen Reinigungsunternehmen stärkten. Dieser Wettbewerb und der damit verbundene Preisdruck halten bis heute an und werden häufig auch auf dem Rücken der Reinigungskräfte ausgetragen.
Abschließend ist es mir wichtig anzumerken, dass es die Gruppe Reinigungskräfte als solche nicht gibt. In meiner Forschung versuche ich, unterschiedliche Perspektiven einzubringen und Parallelen sowie Unterschiede der Erfahrungen im Alltag herauszuarbeiten und zu kontextualisieren. Alle meine Gesprächspartnerinnen* verfügen dabei über ganz unterschiedliche Erfahrungen und Kapitalien im Sinne Pierre Bourdieus, die nicht homogenisiert und verallgemeinert werden können.