Die Preisträger:innen des Jahres 2023 im Gespräch
Markus Seethaler
1. Preis Dissertationen: "Ethischer Intuitionismus und Moralischer Dissens"
Sie schreiben in Ihrer Dissertation (Doktorat Philosophie) über Ethischen Intuitionismus und Moralischen Dissens. Könnte man vereinfacht auch sagen zu Meinungsverschiedenheiten und moralischen Überzeugungen?
Ja genau, das trifft sehr gut den Kern meiner Dissertation.
Etwas weiter ausgeholt geht es mir um zwei zentrale Fragen: (1) können wir angesichts verbreiteter Meinungsverschiedenheiten in moralischen Themen dennoch gerechtfertigterweise an unseren eigenen Überzeugungen festhalten, und (2) wie sollten wir vernünftigerweise damit umgehen, dass es Menschen gibt, die unseren moralischen Überzeugungen widersprechen?
Ich konnte zeigen, dass sich argumentieren lässt, dass uns moralische Meinungsverschiedenheiten grundsätzlich einen Grund dafür geben, die Zuversicht zu reduzieren, mit der wir unsere eigenen Überzeugungen vertreten. Dies führt aber nicht automatisch dazu, dass wir uns in einen Skeptizismus oder Relativismus bezüglich moralischer Überzeugungen verwickeln. Wir können demnach an gewissen moralischen Überzeugungen trotz Dissens festhalten, wenn wir Meinungsverschiedenheiten ernst nehmen und versuchen zu verstehen, warum und wo genau diese auftreten.
Kann Ihre Forschung zum vielbeschworenen „Versöhnungsprozess“ in der Gesellschaft beitragen?
Wenn wir darunter verstehen, dass wir aufeinander zugehen und zwischen unterschiedlichen Perspektiven vermitteln, dann denke ich, dass meine Forschung tatsächlich geeignet ist, dazu beizutragen.
Gelegentlich wird in der philosophischen Debatte auf fehlerfreie Meinungsverschiedenheiten verwiesen. Das sind solche, in denen die Beteiligten jeweils eine aus ihrer Perspektive richtige Gewichtung vornehmen und dadurch zu widerstreitenden Überzeugungen gelangen. Diesen Gedanken weiterführend, argumentiere ich dafür, dass sich fehlerfreie Meinungsverschiedenheiten mit der These verknüpfen lassen, dass es objektiv richtige moralische Überzeugungen gibt. Demnach haben wir nicht nur pragmatische Gründe, einen Versöhnungsprozess anzustreben, sondern auch vernunftbasierte. Wir sind in fehlerfreien Meinungsverschiedenheiten nur dann gerechtfertigt, an unseren eigenen Überzeugungen festzuhalten, wenn wir erkennen, dass die andere Seite ebenso gerechtfertigt ist. Das bedeutet aber nicht Beliebigkeit, denn die unterschiedlichen Gewichtungen müssen sich innerhalb eines objektiven Spektrums an zulässigen Überzeugungen aufhalten.
Ist der Ethische Intuitionismus ein Thema, das Sie weiter bearbeiten möchten oder werden Sie sich neuen Fragestellungen zuwenden?
Ich habe mich bereits in meiner Diplomarbeit mit dem ethischen Intuitionismus beschäftigt. Da ging es mir um die Frage, ob sich dieser mit der Kantischen Ethik vereinbaren lässt. Daraus entstand die Folgefrage, ob der gängige Einwand gegen den Intuitionismus, dass dieser nicht in der Lage wäre, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen, berechtigt ist. Ich konnte in meiner Dissertation zeigen, dass der ethische Intuitionismus nicht nur mit diesem Standardeinwand umgehen kann, sondern sogar eine besonders vielversprechende Theorie darstellt, um die Komplexität moralischer Meinungsverschiedenheiten zu erklären. Schon im Zuge der Arbeit an der Dissertation lag mein Fokus darauf, wie sich Meinungsverschiedenheiten erklären lassen und welche Implikationen für den praktischen Umgang aus der theoretischen Beschäftigung resultieren. Angesichts sich verschärfender Polarisierungstendenzen plane ich, mich zukünftig noch stärker mit unterschiedlichen (moralischen) Konflikten zu beschäftigen.
Sally Baumann
2. Preis Dissertationen: "quantae miracula pompae vidimus – Zu Form und Funktion der ekphrastischen Ausmalungen in den politisch-zeitgeschichtlichen Dichtungen Claudians"
Ihre Dissertation aus dem Fach Klassische Philologie widmet sich „Bildern der Macht“ in den Werken des lateinischen, aus Alexandria stammenden, Dichters Claudian, der im 4. Jahrhundert verortet wird. Gibt es Unterschiede in den verwendeten Bildern der Macht von damals und heute?
Die politisch-zeitgeschichtlichen Gedichte Claudians entstehen im späten 4./frühen 5. Jh. und dienen maßgeblich der Verherrlichung der Mitglieder des Weströmischen Hofes, zumeist des Kind-Kaisers Honorius und seines Vormundes Stilicho, bzw. der Diffamierung ihrer Oströmischen Kontrahenten unter Honorius' Bruder Arcadius. Ich beschäftige mich in meiner Dissertation mit den anschaulich-beschreibenden, visuellen Passagen in diesen Gedichten, untersuche deren Form und Funktion. Regelmäßig übernehmen diese Beschreibungen eine bedeutende Rolle bei der Verherrlichung der Adressaten, die durch die dezidiert visuellen Textausschnitte ihre Stellung untermauern. Die Beschreibungen können in diesem Sinne als „Bilder der Macht“ verstanden werden. Inhaltlich sind diese „Bilder“ natürlich an den Kontext ihrer Entstehung gebunden, die Beschreibung eines adventus z. B. findet man heute in dieser Form nicht (Anmerk. Adventus [=Ankunft] ist der zeremonielle, feierliche Einzug eines Herrschers in eine Stadt, oft mit seinem Heer im Anschluss an eine siegreiche Auseinandersetzung). Ihre Gestaltungsprinzipien sind aber mit denen von heutigen Bildern der Macht vergleichbar.
Können Ihre Analysen auch bei einer kritischen Reflexion aktueller Medien- oder Propagandatexte helfen?
Natürlich. Insofern, wie oben schon angedeutet, als sie helfen, literarische Gestaltungsmechanismen und ihre Wirkungen zu hinterfragen. Ich halte in meiner Untersuchung z. B. nicht nur fest, dass die Beschreibung eines adventus von Honorius und seinem Heer durch die Augen von jungen, überwältigten Zuschauerinnen erfolgt (in der Erzähltheorie nennt man das interne Fokalisierung), sondern frage in einem zweiten Schritt danach, welche Wirkung der Einsatz dieses Rekurses auf den/die Rezipienten/in hat (z. B. Betonung der Männlichkeit und Stärke des noch sehr jungen Kaisers). Das macht unsere Arbeit als Klassische Philolog:innen und Literaturwissenschaftler:innen ja ganz grundsätzlich aus: Wir fragen, wie der antike Text warum wirkt. Dadurch wird man dafür sensibilisiert / darin trainiert, die gleichen Fragen auch an moderne / aktuelle Texte zu stellen.
In Ihrem Essay schreiben Sie, dass Sie Ihre Arbeit als Geisteswissenschaftlerin immer wieder vor Ihrem Umfeld, aber besonders auch vor sich selbst rechtfertigen mussten. Sie sind nun mit Ihrer Dissertation fertig, diese wurde mit einem Preis gewürdigt – rechtfertigen Sie sich noch immer?
Das ist eine gute Frage. An diesem Punkt zweifle ich nicht mehr am Gehalt meiner Arbeit und sehe mich als Literaturwissenschaftlerin im Feld der Klassischen Sprachen; ich habe also meine Rolle gefunden und rechtfertige mich nicht mehr mit Blick auf die Sinnhaftigkeit meiner Arbeit. Als junge Mutter und Frau mit Familie, die nicht grenzenlos flexibel ist / sein kann, komme ich angesichts der mitunter prekären Stellensituation in meinem Fachbereich (inklusive von Befristungsregelungen) aber leider nicht umhin, meine Berufswahl des Öfteren aus pragmatischer Sicht zu hinterfragen.
Gerlinde Gangl
1. Preis Masterarbeiten: Gerlinde Gangl "Deutsche Rechts-WortSchätze Onomasiologische, projektorientierte Analyse eines prägenden Bildspendebereiches der deutschen Gegenwartssprache"
Sie haben Ihre Masterarbeit im Masterstudium Joint Masters Degree „Deutsche Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“ verfasst. Sie befasst sich mit dem „Transgressionsprozess“ von historischen Rechtsphrasen – wie Galgenfrist oder einen Kopf kürzer machen – hin zu metaphorischen Ausdrücken in der Alltagssprache. Wie würden Sie einem Familienmitglied diese Thematik erklären?
Grundsätzlich dienen metaphorische oder bildhafte Ausdrücke dazu, etwas auf besonders eindringliche oder einprägsame Art und Weise zu beschreiben. Bei diesem Prozess wird ein Wort, oder besser, ein ganzes Konzept, aus seiner ursprünglichen Umgebung losgelöst und in einen neuen Bedeutungszusammenhang integriert, wobei sich noch eine Ähnlichkeit von alter, ursprünglicher und neuer, übertragener Bedeutung feststellen lässt. Für den Übergang vom Rechtsbereich in den bildhaften lassen sich unterschiedliche Motivationen vermuten. Blicken wir bspw. auf die Wendung ‚mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen‘, verweist diese im ursprünglichen Rechtskontext einerseits auf die Bestrafung aller MittäterInnen bzw. jeglicher Mitwirkung an einem Verbrechen. Andererseits impliziert die Phrase mitunter das Erhängen als konkrete Todesstrafe. ‚Mithängen‘ lässt darüber hinaus an eine gemeinschaftliche Hinrichtung denken und ferner an Galgenkonstruktionen, die im Speziellen für Räuberbanden gedacht waren, um den Anführer/die Anführerin über den übrigen Mitgliedern baumeln zu lassen. Da solche Strafszenarien vor den Augen der Öffentlichkeit abgehalten wurden, haben sich diese schrecklichen Bilder offenbar – ähnlich einem Trauma – nachhaltig ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt und sind heute in Form von Relikten in der bildhaften Gegenwartssprache konserviert.
Dabei haben Sie einen interdisziplinären Zugang gewählt, der von Ihrem Betreuer an der Universität Graz als „spracharchäologisch rechtsanalytische“ bezeichnet wurde. Was kann man sich darunter vorstellen?
Da ich die bildhaften Ausdrücke als ‚Sprachrelikte‘ verstehe, war es mir ein besonderes Anliegen, ihre rechtshistorische Bedeutsamkeit aufzudecken. Dazu war es notwendig, nicht nur einen Blick auf die Sprachgeschichte zu werfen, sondern, um den Prozess des Bedeutungswandels umfassend nachvollziehbar zu machen, neben Rechtstexten auch realienkundliches Material wie Galgenkonstruktionen, Skelettbefunde und Strafinstrumente miteinzubeziehen. Mein Interesse am konkreten Objekt sowie die Liebe zum Detail ist auf Basis meines Archäologie-Studiums, das ich neben der Germanistik verfolgte, zu erklären. Nach meinem Wechsel für die Dissertation nach Bamberg habe ich übrigens das große Glück an der dortigen Universität meiner Leidenschaft nachzugehen und parallel die zwei Fachbereiche ‚Archäologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit‘ und ‚Historische Grundwissenschaften‘ im Rahmen des Masterstudiengangs ‚Interdisziplinäre Mittelalterstudien‘ zu studieren und dieses Jahr noch zu einem Abschluss zu bringen.
Sie haben Ihrer – über 800 Seiten langen – Masterarbeit ein Zitat Einsteins vorangestellt „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig“. Hält Ihre Leidenschaft für die sprachwissenschaftliche Untersuchung der Deutschen Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit noch an?
Wenn man einmal so ein Baby auf die Welt gebracht hat, besteht die Schwierigkeit eher darin, auch wieder loslassen zu können und neue Wege im Rahmen des Dissertationsvorhabens zu gehen. Gerade durch das Seminar ‚Einführung in die deutsche Sprachgeschichte‘, das ich
dieses Semester erstmalig an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg selbstständig abhalten darf, hat sich mein Blick deutlich erweitert, da ich mich mit Prozessen ab dem Indogermanischen bis hin zum Neuhochdeutschen auseinandersetze und so nicht nur auf das
Mittelalter hin zentriert arbeite. Jetzt heißt es, neue Wege zu gehen und neue Herausforderungen anzunehmen – und genau dafür brenne ich (mehr denn je)!
Julia Kaidisch
2. Preis Masterarbeiten: Julia Kaidisch "Alexander Gottlieb Baumgarten, ein Pionier der Künstlerischen Forschung? Die Aesthetica und der zeitgenössische Diskurs zu einer Erkenntnis durch die Künste im Vergleich"
Sie haben Ihr Masterstudium der Philosophie mit einer Arbeit über Alexander Gottlieb Baumgarten abgeschlossen. Darin befassen Sie sich mit der Frage, ob die „Aesthetica“ Baumgartens als ein Vorläufer der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit „Künstlerischer Forschung“ gesehen werden kann. Sie plädieren darin jedoch für eine Anwendung des Terminus einer „Künstlerischen Erkenntnis“. Was genau bedeuten diese Begriffe und worin liegt der Unterschied?
Die begrifflichen Trennlinien zwischen einer ‚Künstlerischen Erkenntnis‘ und ‚Künstlerischen Forschung‘ sind im aktuellen Diskurs alles andere als klar – letztere wird oftmals derart weit verstanden, dass sie mit der ersteren deckungsgleich wird, bezogen auf die epistemischen Prozesse sämtlicher Kunstformen. Dies ist meines Erachtens vor allem mit Hinblick auf eine Anerkennung des epistemischen Wertes der Kunst nicht sinnvoll, vielmehr sollte von einer ‚Künstlerischen Erkenntnis‘ als übergeordnetem Begriff und einer ‚Künstlerischen Forschung‘ als spezieller Form derselben ausgegangen werden. Unter ‚Künstlerischer Erkenntnis‘ verstehe ich (teils angelehnt an Baumgarten) eine nicht-diskursive, stark assoziativ verfahrende, nicht notwendigerweise auf ein Ziel hinarbeitende, prozessuale Auseinandersetzung mit der Welt (sowohl aufseiten der Künstler:innen als auch aufseiten der Rezipient:innen), durch die eine nicht-begriffliche Form von Wissen generiert wird. ‚Künstlerische Forschung‘ als Sonderform zeichnet sich im Vergleich zu anderen Kunstformen durch die dezidierte Wahl einer (mitunter bereits etablierten) Methode sowie eine stärkere Zielorientierung aus.
Worin liegt der Wert einer künstlerischen Erkenntnis, gerade in Hinblick auf eine (gesellschafts)politische Dimension von Kunst?
Der gesellschaftspolitische Erkenntniswert der Kunst liegt vor allem in ihrem Aufzeigen, Infragestellen und Aufbrechen sozialer Normen, die meist durch den Trott der Gewohnheit für den alltäglichen Blick unsichtbar werden. Ein solches Feld ist die künstlerische Arbeit gegen das Vergessen – in Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ (1947) ringt der Protagonist mit einer Schuld, die für das Deutschland der Nachkriegszeit in seinem zukunftsfixierten Verdrängen keine Bedeutung hat. Soziale Sprengkraft erreicht auch die Aktion „Radioballett“ der Künstlergruppe LIGNA – über eine Stimme aus dem Radio mit Anweisungen versorgt lotete eine Menschengruppe am Hamburger (2002) und Leipziger (2003) Hauptbahnhof die Grenzen unseres Verhaltens im öffentlichen Raum aus. So wird etwa die zum Gruß ausgestreckte Hand durch leichtes Drehen zu einer bittenden, genauer einer bettelnden, ein Tabubruch im konsumorientierten öffentlichen Raum. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wem dieser Raum gehört und gehorcht. Kunst macht jene Strukturen erfahrbar, die gewöhnlicherweise unter unseren Radar fallen.
Sie sind mittlerweile bereits im Doktoratsstudium. Widmet sich Ihre Dissertation einer ähnlichen Forschungsfrage oder beschäftigen Sie sich mit einem ganz anderen Thema?
Meine Dissertation entsteht im Rahmen des FWF-Projektes „Reimport of Analytic Philosphy to German Speaking Academia. A Case Study on the Role of Rudolf Haller". Ich habe mich dazu entschlossen, einen kunstphilosophischen Diskurs zu beleuchten, der nach Erscheinen von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (1953) entbrannte und bis heute rege geführt wird. Im Zentrum steht die Frage nach der Möglichkeit einer Wesensdefinition von Kunst. Wittgensteins Nachfolger bestreiten diese vehement, in Gegenreaktion gibt es eine ganze Welle an pro-essentialistischen Ansätzen. Als kunstinteressierter Wittgenstein-Kenner eröffnete der Grazer Philosophieprofessor Haller in seinen Aufsätzen anregende Perspektiven und Verknüpfungen, die eine Untersuchung der verschiedenen Argumentationslinien dieses Diskurses bereichern sollen. Der Kunstphilosophie bleibe ich also weiterhin treu – der spezifisch epistemologische Blick auf die Kunst ist für die Frage nach ihrem Wesen natürlich höchst relevant.
Natalija Milovanović
2. Preis Masterarbeiten: „Auf Unsrisch“: Migration als in jeder Sprache verständliche Erfahrung
Sie beschäftigen sich in Ihrer ausgezeichneten Masterarbeit aus dem Joint Master‘s Programme Translation mit der Übersetzung eines Romans des Autors Goran Vojnović. Konkret geht es um die Übersetzung des Romans „Jugoslavija, moja dežela“ und wie Aspekte wie Mehrsprachigkeit, Kulturrealia und Hybridität des Originalwerkes in die deutsche Übersetzung von Klaus Detlef Olof übertragen wurden. Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen und worin liegt die Schwierigkeit für den/die Übersetzer:in?
Bei mehreren Sprachen in einem literarischen Text sprechen wir von literarischer Mehrsprachigkeit. Diese kann unterschiedliche Formen und Funktionen haben, drückt aber immer (un-)mittelbar Verhältnisse zwischen den Sprachen aus, die auch in der Übersetzung ihren entsprechenden Platz finden sollen. Neben der Mehrsprachigkeit sind auch Kulturrealia ein sehr wichtiger Aspekt. Darunter verstehen wir Elemente, die einer Kultur immanent sind und keine Erklärung benötigen, was aber nicht für die Übersetzung gilt, da die Leser:innen nicht über dasselbe Wissen verfügen. Das dritte Schlüsselkonzept – Hybridität – geht auf Homi Bhabha zurück und problematisiert vor allem die Idee von starren kulturellen Grenzen. Nach Bhabha sind Kulturen nicht klar umrissen, sondern beeinflussen sich ständig gegenseitig. Hybridität wird also als Produkt dieser Einflussnahme von Kulturen aufeinander und ihrer Durchdringung ineinander verstanden. Eine solche mehrsprachige und -kulturelle Dynamik des literarischen Textes in eine dritte Sprache einzubauen, ist eine große Herausforderung für Übersetzer:innen.
Worin liegt die besondere Herausforderung von Übersetzer:innen in der Bearbeitung von Literaturen der Migration bzw. von Autor:innen mit Migrationshintergrund?
Die besondere Herausforderung liegt gerade im Verständnis der Machtverhältnisse zwischen den verwendeten Sprachen, Kulturrealia und ihrer hybriden Mischungen. Die Übersetzer:innen müssen die Funktionen der sprachlichen und literarischen Mittel verstehen, um sie entsprechend zu übertragen. Da literarische Übersetzungen aber keinen oder sehr wenig Platz für Erklärungen anbieten, ist die Arbeit an einer Übersetzung der Literatur der Migration wie eine Gleichgewichtsübung: Wie drücke ich am meisten mit möglichst wenigen Erklärungen aus? Wie erkläre ich so viel wie möglich, ohne den Lesefluss zu stören?
Auch der Titel meiner Masterarbeit „Auf Unsrisch“ ist ein Zitat aus Vaters Land, eine Formulierung, die dem Protagonisten einfällt, als er beim zugewanderten Mechaniker in Slowenien Rabatt bekommen möchte. Die Bezeichnung „auf Unsrisch“ beinhaltet in zwei Worten die Nähe der B/K/S Sprachen und ihrer Sprecher:innen, die nach den Jugoslawienkriegen formell getrennt sind, sich im Ausland jedoch sehr nahe stehen. Diese komplizierte Nähe muss aber auf Deutsch im Laufe des Textes ganz anders gezeigt werden.
In Ihrem Essay zur Preiseinreichung betonen Sie die Relevanz von Literatur der Migration und ihrer Übertragung in unterschiedliche Sprachen für die Sichtbarmachung von Migrationserfahrungen über Sprach- und Generationengrenzen hinweg. Wird dieser Thematik in deutschsprachigen Verlagen aus Ihrer Sicht genügend Platz eingeräumt?
Gerade in deutschsprachigen Verlagen ist dieses Thema in der letzten Zeit relativ stark vertreten und normalisiert. Ihr wird Platz im Zentrum und nicht am Rande der literarischen Landschaft gewährt. Dies zeigt sich auf der einen Seite durch Nominierungen und Verleihungen wichtiger Preise oder Stipendien. Auf der anderen Seite zeigt sich die Relevanz der Literatur der Migration auch zum Beispiel bei Konzipierungen der sogenannten „Nationalliteratur“. Hierbei fällt als erstes Beispiel Österreichs Auftritt als Gastland bei der Leipziger Buchmesse 2023 unter dem Motto „meaoiswiamia“, sprich „mehr als wir“, ein. Schaut man sich die Liste der Mitwirkenden an, wird sofort klar, dass dabei mehr als österreichische Literatur im engen Sinne ihren Platz gefunden hat.
Auch im slowenischsprachigen Raum wächst langsam die Zahl der Stimmen, die transkulturelle Erfahrungen schildern. So treten in der letzten Zeit neben Goran Vojnović auch andere Autor:innen mit vergleichbaren Geschichten und literarisch wertvollen Werken hervor.