Von der Aufklärung weg lässt sich eine durchgehende Linie des literarischen Interesses am künstlichen Menschen nachzeichnen, die auch als Reaktion auf technische und gesellschaftliche Umbrüche gelesen werden kann: von der Mechanisierung im 18. Jahrhundert über die Industrialisierung und Genforschung bis hin zur KI-Entwicklung der Gegenwart. Das spiegelt sich in Werken wie E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ (1816) und Mary Shelleys „Frankenstein“ (1818) wider. Im 20. Jahrhundert haben Autoren wie Isaac Asimov („I, Robot“, 1950) nicht nur die literarische Gattung Science-Fiction geprägt, sondern auch unsere Vorstellungen davon, wie Menschen und Maschinen interagieren können. Die Faszination für von Menschen erschaffene menschliche Wesen, aber auch das Unbehagen, das sie auslösen, reicht jedoch mit Prometheus, Pygmalion und Pandora bis in die Antike zurück.
Anne-Kathrin Reulecke, Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik, erklärt die ambivalente Reaktion auf humanoide Wesen damit, „dass ein menschenähnliches Gegenüber immer die Frage nach der anthropologischen Differenz stellt, also die Frage: Was macht mich denn als Mensch aus, wenn diese und jene Tätigkeit von einer Maschine ausgeübt werden kann? Das mag bei einem Rasenroboter noch nicht problematisch sein. Aber wenn es um Interaktion geht, wenn also humanoide Wesen eine soziale oder zwischenmenschliche Funktion einnehmen, dann drängt sie sich in den Mittelpunkt.“
Literatur nimmt Gegenwart vorweg
Beim XV. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) Ende Juli in Graz leitet Reulecke gemeinsam mit Tanja Nussler von der Universität Cincinnati und dem emeritierten Professor Rudolf Drux, der seit den 1980ern Pionierarbeit zum Themenkomplex leistete, eine Sektion über „Literarische Imaginationen des künstlichen Menschen als Krisenphänomen“. „Für unser Panel ist die Überlegung wichtig: Das, was bis dato Science Fiction war – dass es Roboter im Haushalt gibt oder Liebesbeziehungen zu Maschinen usw. –, das ist inzwischen nicht mehr Zukunft, sondern real“, sagt die Literaturwissenschaftlerin im Gespräch. Dabei hätten Literatur und Film immer wieder Entwicklungen vorweggenommen. Jüngere Romane, wie Raphaela Edelbauers „Dave“ (2021) oder „Klara und die Sonne“ (2021) des britischen Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, ergründeten beispielsweise das Potenzial der KI, noch bevor 2023 ChatGPT auf den Markt kam und unseren Umgang mit Wissen grundlegend änderte. Reulecke: „Meine These ist, dass die Literatur immer etwas aufspürt – einen Zeitgeist – und in Gedankenexperimenten die Gegenwart vorwegnimmt.“ Literatur spiele dabei den Vorteil aus, „dass sie Zeit hat und differenziert sein darf und Widersprüche aufzeigen kann. Die Literatur muss nicht, wie die Politik oder eine Ethikkommission, zwischen Zustimmung und Ablehnung entscheiden. Sie kann Bedenken äußern, aber auch aufzeigen, was interessant sein könnte in der Interaktion mit Maschinen.“
„Die Welt ist fantastisch geworden“
In ihren Studien beschäftigt sich Anne-Kathrin Reulecke seit knapp zehn Jahren mit den „Grenzen des Humanen“ (so der Titel einer von ihr geleiteten Forschungsgruppe am Institut für Germanistik). Dort und in dem seit 2024 bestehenden Strukturierten Doktoratsprogramm „Transformationen des Humanen“ geht es um technische – medizinische und mediale – Machbarkeiten und darum, wie diese gängige menschliche Erfahrungen in Frage stellen. Früher habe sie Science-Fiction und Fantasy überhaupt nicht gemocht, sagt die Germanistin, „weil ich keinen Zugang habe zu Texten, die etwas völlig Irreales, Fantastisches thematisieren. Aber: Interaktion zwischen Mensch und Roboter bzw. Mensch und Künstlicher Intelligenz – das ist ja keine Fantasie mehr. Die Welt ist fantastisch geworden.“
Liebe zwischen Mensch und Roboter als Feuerprobe
Beim IVG-Kongress wird Reulecke über „Liebe im Zeitalter der technischen Verführbarkeit“ referieren. Ausgehend von der Erzählung „Ich bin dein Mensch“ (2019) von Emma Braslavsky und jüngeren Romanen von Ian McEwan und Martina Clavadetscher wird sie ausführen, warum die Liaison von Mensch und Maschine in der Literatur das zwiespältige Gefühl, das uns angesichts perfekter künstlicher Spiegelbilder gerne überkommt, noch einmal zuspitzt. Im Gespräch sagt Reulecke dazu: „Die Liebe gilt in unserer Kultur als die höchste aller Verbindungen zwischen Menschen – sei es zwischen Partnern oder zu Kindern. Liebe ist der Ort, wo ausgehandelt wird: Was macht uns als Menschen aus, was sind unsere Gefühle, was ist das Wichtigste? Es ist kein Zufall, dass die Frage in den von mir untersuchten Romanen und Erzählungen sozusagen die Feuerprobe ist: Funktioniert das Zusammenleben zwischen Mensch und Roboter? Und wo sind die Grenzen?“ – Für die Philologin schwingt dabei auch etwas mit, „was man narzisstische Kränkung nennen kann: Dass bestimmte mechanische Aktionsweisen dieser Figuren uns daran erinnern, dass auch wir zum Teil mechanisch sind – in unseren Antworten, in unserer Stereotypie“, sagt sie. „Literarische Werke halten uns diesbezüglich den Spiegel vor. Oft sind die Humanoiden perfekt, und in den Romanen wird gezeigt, dass die Perfektion, die anfangs erstrebenswert erscheint, in etwas Grausames umschlagen kann.“
Lesetipps von Anne-Kathrin Reulecke:
- Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818)
- Emma Braslavsky: Ich bin dein Mensch (2019)
- Ian McEwan: Maschinen wie ich (und Menschen wie ihr) (2019)
- Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne (2021)
- Raphaela Edelbauer: Dave (2021)
- Martina Clavadetscher: Die Erfindung des Ungehorsams (2021)
Tipp
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