„Nicht nur die Qualität eines Objekts, sondern auch seine Wirkung auf die Betrachter:innen sind Teil einer ästhetischen Einschätzung“, schickt die Musikwissenschaftlerin Susanne Kogler gleich voraus. „Schon seit Kant gehen wir davon aus, dass subjektive Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und Empfindungen in unsere Bewertung von Kunst einfließen.“ Die Song-Contest-Beiträge sind also eine Frage des persönlichen Geschmacks. Die Zuhörer:innen dürfen allerdings annehmen, dass andere ihr Urteil teilen. „Wenn uns ein Song gefällt, nehmen wir an, dass er auf allgemeine Zustimmung stößt und die Chance hat zu gewinnen“, ergänzt die Forscherin.
Das Ereignis der Aufführung und der Wettbewerb der Meinungen seien essenzielle Bestandteile des ESC, „sonst könnten Expert:innen im stillen Kämmerchen eine Entscheidung fällen“, meint Kogler. Dass das Publikum ein deutliches Wörtchen mitzureden hat, ist in ihren Augen wesentlich und berechtigt. „Auch die Jury urteilt subjektiv, jedes Mitglied gewichtet die einzelnen Kriterien unterschiedlich stark“, führt die Wissenschaftlerin aus. Ihre Kollegin Saskia Jaszoltowski, die seit vielen Jahren den Song Contest beforscht, ergänzt: „Anders als im Sport gibt es in der Kunst keine objektiven Maßstäbe. Während die Jury vielleicht eher auf die Qualität der Komposition oder die Nuancen der Gesangsstimme achtet, lassen sich die Zuhörer:innen stärker vom eigenen Geschmack leiten. Beides hat seine Berechtigung.“
In den höchsten Tönen
Dass der österreichische Starter sein Können als Countertenor in seinem Lied „Wasted Love“ unter Beweis stellt, könnte ihm Punkte einbringen, schätzt Susanne Kogler. „In der Popmusik haben schon die Beach Boys, die Bee Gees oder Prince ihre Falsettstimme erfolgreich eingesetzt. Beim Publikum kommt das gut an, weil die Männer damit verletzlicher wirken, aber gleichzeitig eine gewisse Stärke zeigen, wenn sie in hohen Lagen noch gut und kräftig singen können.“ JJ verknüpft mit seinem Song, der ja auch kurze opernhafte Passagen enthält, den Starkult um Sopran-Sänger aus dem 18. Jahrhundert mit einer völlig anderen Geschlechterdebatte in der Gegenwart. „Das Verwischen der Grenzen zwischen Männlich und Weiblich könnte viele ansprechen“, vermutet Kogler. Dieser Aspekt hat ja bereits Conchita Wurst zum Sieg verholfen.
Gesellschaftliche und aktuelle politische Themen sind im Song Contest in den letzten Jahren immer wieder in den Vordergrund getreten. „Diese Entwicklung war zwar eigentlich nicht beabsichtigt, lässt sich aber definitiv beobachten“, stellt Saskia Jaszoltowski fest. Im positiven Sinne vermittelt der Event jedenfalls eine politische Botschaft: „Bei dem Medienspektakel geht es um viel mehr als die Frage, wer gewinnt. Der Wettbewerb zelebriert alljährlich das friedliche Miteinander und das Zusammenkommen vieler Menschen, um sich an der Musik zu erfreuen – jenseits der Kategorien von Nationalität, Religion, Gender. Eurovision ist auch eine Art Utopie, in der kulturelle Integration und musikalische Diversität gefeiert wird“, unterstreicht die Forscherin.