Ob Corona, Klimakrise oder rascher gesellschaftlicher Wandel – Krisen erschüttern unsere Routinen, verunsichern und hinterlassen ein Gefühl von Kontrollverlust. Viele Menschen erleben dabei Angst und ein grundlegendes (epistemisches) Unbehagen darüber, wie sich die Welt verändert, und dass die früher scheinbar verlässlichen Erklärungen für diese Welt plötzlich nicht mehr greifen.
Das ist der Boden, auf dem Verschwörungstheorien gedeihen, denn sie bieten – anders als komplexe wissenschaftliche Argumente oder ausgewogene mediale Berichte – einfache, klare und scheinbar logische Erklärungen für krisenhafte Ereignisse wie 9/11 oder die COVID-19-Pandemie. Ihre emotionale Wirkkraft beziehen Verschwörungstheorien daraus, dass sie komplexe Phänomene auf eine verständliche Geschichte mit Tätern, Opfern und vermeintlichen „Aufdeckern“ reduzieren. „Im Kern der meisten Verschwörungstheorien steht eine kleine, mächtige Gruppe (meist Männer), die sich im Geheimen verschworen hat, um der Bevölkerung zu schaden“, sagt Georg Weidacher, Senior Lecturer am Institut für Germanistik der Uni Graz. „Die Erzählungen entfalten ihre Wirkung dadurch, dass man dem Geschehen eine narrative Ordnung überstülpt, wie man sie auch aus Romanen oder Filmen kennt. Das gibt jenen, die an die Verschwörung glauben, etwas Sicherheit zurück, weil es etwas erklärt.“
Was Verschwörungstheorien so wirkungsvoll macht
Besonders wirkungsvoll sind Verschwörungserzählungen, „wenn sie bestehende Einstellungen bestätigen“, sagt der Forscher. „Wenn man von irgendjemandem glaubt, er sei zu etwas Bösem fähig, dann wird die Verschwörungstheorie, die diese Einstellung bestätigt, glaubwürdig.“ Und es gibt noch einen verstärkenden Effekt: „Wer an Verschwörungen glaubt, fühlt sich als Experte, der Dinge erkannt hat, die andere nicht erkannt haben.“ Die Folge: Verschwörungserzählungen stiften Gemeinschaft – besonders in digitalen Räumen. Sie bringen Menschen zusammen, die ähnliche Zweifel, Ängste und „Einsichten“ teilen, und entfalten dadurch eine stabilisierende psychologische Wirkung.
Textlinguistische Analyse von politischen Erzählungen
Georg Weidacher hat vor rund zehn Jahren begonnen, sich textlinguistisch mit der Darstellung des Heimatbegriffs auf Wahlplakaten und in anderen politischen Texten zu beschäftigen. Die Textlinguistik befasst sich – zwischen der Literaturwissenschaft und der Linguistik angesiedelt – mit satzübergreifenden sprachlichen Strukturen, also etwa mit der Analyse des Aufbaus und der Wirkweise von Textsorten. Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 wurde Weidachers Interesse an Verschwörungserzählungen geweckt. Ihm fiel das in Ungarn verbreitete Gerücht auf, der ungarischstämmige US-Milliardär George Soros hätte die syrischen Flüchtlinge „eingeladen“, nach Europa zu kommen. „Auch der aktuelle Begriff der ‚Umvolkung‘, der im April 2025 im österreichischen Nationalrat zu Diskussionen geführt hat, weist Merkmale einer Verschwörungstheorie auf, wenn er auf dem Glauben basiert, dass jemand die Migration auslöst mit der Absicht, dem österreichischen Volk zu schaden“, sagt der Germanist.
Klimawandel, Genderverschwörung, Reptiloide
Im Vortrag „Verschwörungserzählungen als Ausdruck epistemischen Unbehagens“, den Weidacher am 25. Juli beim XV. Kongress der Internationalen Vereinigung der Germanistik (IVG) an der Universität Graz hält, wird sich der Forscher mit Verschwörungstheorien rund um Klimawandel und Genderthemen befassen, aber auch mit absurden Theorien wie jener, die Esoterikautor David Icke 1999 publiziert hat, wonach wir in Wahrheit von „Reptiloiden“ – Mischwesen aus Menschen und Außerirdischen – beherrscht werden würden. „Generell geht es mir stets darum aufzuzeigen, wie Verschwörungstheorien zur Verringerung epistemischen Unbehagens und zugleich zur Kritik an tatsächlichen oder imaginierten, jedenfalls aber als solche postulierten ‚Feinden‘ eingesetzt werden“, sagt Weidacher.