Anschubfinanzierung - geförderte Anträge
2024 wurden folgende Anträge für Drittmittelprojekte durch die Fakultät gefördert:
Berth, Christiane: Vom Festnetz zum Handy: Die Geschichte des Telefons in Lateinamerika, 1980-2010
Das Telefonnetz war ein wichtiger sozialer Bezugspunkt im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts. Um das Telefon kristallisierten sich Wünsche, Hoffnungen, Ärger, Entwicklungsvisionen und soziale Regeln.
Telefonzentralen und öffentliche Fernsprecher galten einerseits als Symbol für Fortschritt. Firmen und Politiker:innen entwarfen eine idealisierte Version des Telefonnetzes: Weiße Nutzer:innen in urbanen Zentren demonstrierten ihrer Meinung nach die Modernität lateinamerikanischer Gesellschaften. Auch internationale Organisationen vertraten diese Position und präsentierten die Telekommunikation als Schlüssel zum Wirtschaftswachstum ländlicher Regionen. Konträr dazu standen die Erfahrungen von vielen Nutzer:innen, die oft mit unterbrochenen Gesprächen, schlechter Übertragungsqualität oder defekten Apparaten kämpften. So entwickelten sich Telefone andererseits zu einem Symbol für schlechten Service und die politische Vernachlässigung von Infrastrukturen. Seit den 1980er Jahren gab es heftige politische Auseinandersetzungen über die Privatisierung der Telefonfirmen und Regulierung der Telekommunikation. Parallel dazu begannen die ersten Experimente mit Handys, die im 21. Jahrhundert das Festnetz ablösten und öffentliche Fernsprecher bedeutungslos werden ließen. Das Projekt analysiert die Wechselwirkungen zwischen der politischen Ökonomie der Telekommunikation, staatlicher Regulierung, neuen Techniken und Nutzungsformen in dieser gesellschaftlichen Umbruchphase.
Foltz, Anouschka: Alternative Linguistik: Infragestellung von Annahmen der Disziplin
In diesem Projekt wird untersucht, was passiert, wenn wir in unserer empirischen linguistischen Forschung andere Grundannahmen über Sprache verwenden. Dies ermöglicht uns einen Einblick in die Art und Weise, wie diese Annahmen die Forschungsergebnisse beeinflusst haben.
Das Projekt konzentriert sich auf die Grundannahme, dass der einsprachige Muttersprachler einer Standardvarietät der "ideale Sprecher" ist, der Maßstab für den Spracherwerb und die Sprachbeherrschung. Diese Annahme ist problematisch, da die überwiegende Mehrheit der Menschen auf der Welt zwei- oder mehrsprachig ist und Zweisprachige nicht einfach zwei Einsprachige in einer Person sind. Darüber hinaus spiegeln die Standardvarietäten eher historische und Machtverhältnisse wider als Sprachkenntnisse.
Das Hauptziel des aktuellen Projekts ist es - in zwei verschiedenen Forschungssträngen - zu quantifizieren, was passiert, wenn wir nicht weiter mit diesen problematischen Annahmen arbeiten.
Im ersten Teil des Projekts werden Kinder untersucht, die mit Standard American English (SAE) oder African American English (AAE) aufwachsen. Die Kinder werden mit einem SAE- oder einem äquivalenten AAE-Wortschatztest getestet, um festzustellen, wie sich ein Test, der entweder der eigenen Varietät der Kinder entspricht oder nicht, auf die rezeptiven Wortschatzwerte auswirkt.
Im zweiten Strang wird ein Test entwickelt, der sich auf Englisch als globale Sprache und nicht auf eine bestimmte Sprachvarietät bezieht. Der Test orientiert sich an Dialektumfragen und Korpora und wird sowohl einen Produktions- als auch einen Verstehensteil umfassen.
Darüber hinaus werden detaillierte demografische und sprachliche Hintergrundinformationen verwendet, um zu untersuchen, inwieweit die Testergebnisse mit dem sozioökonomischen Status und der Anzahl der Sprachvarietäten, denen Kinder und Erwachsene ausgesetzt sind, zusammenhängen.
2023 wurden folgende Anträge für Drittmittelprojekte durch die Fakultät gefördert:
Heuer, Christian: Disziplingeschichte(n) der Geschichtsdidaktik. Wissensordnungen, AkteurInnen und soziale Praktiken der 1970er- und 1980er Jahre
Im Forschungsprojekt „Disziplingeschichte(n) der Geschichtsdidaktik. Wissensordnungen, AkteurInnen und soziale Praktiken der 1970er- und 1980er Jahre“ soll durch die Erhebung und Analyse von bislang unbearbeiteten und unveröffentlichten Quellen der erstmalige Versuch unternommen werden, aus praxistheoretischer Perspektive das Feld der Geschichtsdidaktik in den siebziger und achtziger Jahren, den Produktionsprozess geschichtsdidaktischen Wissens, ihre bis heute tradierten geschichtsdidaktischen Wissensordnungen, die zentralen und vergessenen Akteur:innen des „langen Sommers der Geschichtsdidaktik“ (Heuer, Hasberg & Seidenfuß 2020), ihre sozialen Praktiken des Agenda-Settings in den 1970er- und 1980er- Jahren mitsamt ihrer Konstellationen und Wechselwirkungen im Kontext der Zeitschrift „Geschichtsdidaktik“ mit den Instrumenten der Wissenschaftsgeschichte und der historischen Epistemologie im Modus wissenschaftlicher Reflexivität disziplingeschichtlich neu zu vermessen, um so die Konstituierung und Etablierung der wissenschaftlichen Disziplin Geschichtsdidaktik als Effekt einer eigenen sozialen Praxis zu analysieren.
Das Forschungsprojekt folgt dabei explizit einem bislang innerhalb der geschichtsdidaktischen Disziplingeschichtsschreibung unbeachteten praxistheoretischen Ansatz, der, davon ausgeht, dass Praktiken ein „nexus of doings and sayings“ (Schatzki 1996, 89) umfassen, die Akteur:innen, Materialitäten und Sinnformationen umgreifen, sich raum-zeitlich vollziehen und einen hochgradig subjektivierenden Charakter haben. Ein solcher Zugriff ermöglicht es, die Phase der Konstituierung und Etablierung der Geschichtsdidaktik in den siebziger und achtziger Jahren in ihren Diskursen, Wissensordnungen, Konstellationen, Kontexten und Netzwerken als eine eigene soziale Praxis zu vermessen und als solche zu analysieren.
Hofeneder, Philipp: Eine Kartografie imperialen Wissens. Die Visualisierung von Wissenstransfer in Russland (1802-1819)
Die Entstehung und Etablierung von Wissen setzen in hohem Maße die Mobilität von Personen, Objekten und Einrichtungen voraus. Erst wenn sich diese bewegen oder über räumliche Distanzen hinweg agieren und damit in ein relationales Verhältnis treten, entsteht Wissen. Wissenschaftsgeschichte wird seit geraumer Zeit eben aus diesem Blickwinkel der Mobilität untersucht. Dabei greift man auf ein metaphorisches Verständnis zurück und beschreibt diese Prozesse oftmals als Zirkulation. Dieser Begriff ist in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften weithin gebräuchlich, und beschreibt die Entstehung und Verbreitung von Wissen anhand mehr oder weniger unveränderlicher Verlaufsbahnen, wie das etwa bei der Zirkulation von Planeten oder Luft zu sehen ist. So sehr diese Ausdrucksweise dem zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb geschuldet ist und der metaphorischen Darstellung komplexer Prozesse dient, so wenig entspricht sie doch den realen Abläufen. Denn Wissen findet oftmals spontan, vielfach unidirektional und in jedem Fall selten entlang fester Verlaufsbahnen statt. Das Projekt setzt sich zum Ziel, die realen Bewegungen und Verhältnisse im Raum zu rekonstruieren und damit das bestehende Verständnis von Wissenstransfer anhand eines konkreten historischen Ereignisses einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen.
Untersuchungsgegenstand sind die Universitätsgründungen (Tartu, Vilnius, Charkiv, Kasan, Warschau und St. Petersburg) im Zarenreich während der Herrschaft Alexander I. (1801-25), die ausgewertet, kartografiert und visualisiert werden. Analysiert werden die Lebensläufe, wissenschaftlichen Aktivitäten und institutionellen Anbindungen von mehreren hundert Professoren und Dozenten (aufgrund der damaligen Verhältnisse blieb Frauen der Zugang zu universitärer Forschung verwehrt). Diese wurden anfangs überwiegend aus dem Ausland angeworben und zeigen die starke gesamteuropäische Verflechtung des Wissenstransfers. Wissenstransfer wird dabei aus einer pluriethnischen und zugleich raumkritischen Perspektive untersucht.
Mattes, Veronika: Sprachliche Entwicklung im Schulkind- und Jugendalter: Wortbildung und Lexikon
Das geplante Projekt untersucht den Erwerb bzw. die Weiterentwicklung der Wortbildung und den damit eng verknüpften Aus- und Umbau des mentalen Lexikons im Schulkind- und Jugendalter. Im Fokus steht die Frage, durch welche inner- und außersprachlichen Faktoren diese Entwicklung beeinflusst wird.
Die Wortbildung (Derivation und Komposition) im Deutschen ist ein reiches kombinatorisches System, dessen semantische und kategoriale Modifikationsmöglichkeiten das Lexikon deutlich vergrößern. Der größte Anteil an Ableitungsmustern und vor allem deren differenzierten Bedeutungen wird erst im Laufe des Schulalters erworben, in engem Zusammenhang mit der Schrift- und Bildungssprache.
Für die Entwicklung des Wortschatzes und der Wortbildung ist vor allem eine hohe lexikalische und kontextuelle Diversität im sprachlichen Input ausschlaggebend: Je vielfältiger das mündliche und schriftliche Sprachangebot, die Interaktionssituationen und die Interaktionspartner*innen sind, desto reichhaltiger und vielfältiger ist auch der verwertbare Input. Umfang und Beschaffenheit des Inputs wirken sich auf die Art und die Geschwindigkeit der sprachlichen Entwicklung aus, was wiederum insofern von großer Bedeutung ist, als der Umfang des Wortschatzes eines Kindes/Jugendlichen einen verlässlichen Prädiktor für den schulischen Erfolg darstellt.
Noch relativ wenig wurde bisher untersucht, welche Rolle dabei neben den Eltern auch andere Interaktionspartner*innen, z.B. Geschwister und Gleichaltrige („Peers“), sowie der schriftliche und mündliche Input durch verschiedene Medien spielen. Unterschiedliches Gewicht haben diese Faktoren bei ein- und mehrsprachig aufwachsenden Kindern sowie unterschiedlichen sozio-ökonomischen familiären Umständen.
Im Projekt werden die allgemeinen kognitiven und psycholinguistischen Prozesse untersucht, die beim Ausbau des Wortschatzes durch Wortbildung eine Rolle spielen, sowie die Auswirkungen der genannten Faktoren auf den allgemeinen Entwicklungsprozess (v.a. Input durch Geschwister und Gleichaltrige, ein- vs. mehrsprachiger sowie durch Medien schriftlich und mündlich transportierter Input, sozio-ökonomischer Hintergrund der Kinder/Jugendlichen). Methodisch ist eine Triangulation aus Korpusanalysen longitudinaler Spontansprachdaten, transversalen Erhebungen von gesprochener und geschriebener Sprache sowie experimentellen Untersuchungen geplant.
Scuderi, Cristina: Die Übertragung von musikalischem Wissen, instrumentalen und kompositorischen Praktiken im europäischen Violinspiel des 18. Jahrhunderts: Untersucht am Beispiel von Tartinis School of Nations im Lichte ihrer transnationalen Netzwerke
Im Rahmen des Projekts soll am Beispiel von Tartinis School of Nations (1728) untersucht werden, wie musikalische Fähigkeiten im 18. Jahrhundert von Lehrenden auf den Schüler oder die Schülerin übertragen wurden. Es wird darüber Aufschluss geben, wie sich bestimmte Lehrmethoden über Generationen von SchülerInnen verbreiteten, wiederholten und festigten. Auch das Beziehungsgeflecht zwischen Mäzenen und SchülerInnen Tartinis wird in einem gesamteuropäischen Kontext analysiert, um die sozio-professionellen Bedingungen zu erfassen, in deren Rahmen das pädagogische Handeln stattfand. Die Person Tartinis ist insofern beispielhaft, als er verschiedene Fähigkeiten vermittelte: instrumentale, kompositorische und theoretische. Die Identität der School of Nations zu umreißen und die europäische Diaspora ihrer Mitglieder zu kartographieren, bedeutet, ihrer verzweigten didaktischen Tradition zu folgen und den enormen Einfluss zu verstehen, den sie auf die Ensembles an den Höfen der damaligen Zeit und auf die Musikinstitutionen der einzelnen Länder im Allgemeinen hatte.
Zunächst ist zu definieren: Was bedeutet der Begriff „Schule“ in diesem Zusammenhang? Wir leben in einer Zeit, in der Wissen eher „gehortet“ als geteilt wird und somit einen elitären Charakter hat. Kann man also von einer „Gruppe“ von ausgebildeten SchülerInnen mit bestimmten Merkmalen sprechen? Es wird daher wichtig sein, die angenommene Einheitlichkeit des technisch-exekutiven und stilistischen Modells zu bewerten, das durch die Interpretationen der „tartinischen“ SchülerInnen in ganz Europa verbreitet wurde. Während der kulturell-musikalische Transfer zwischen Padua und dem Dresdner Hof, an dem mehrere Tartini-Schüler tätig waren, durch die Studien von Pierluigi Petrobelli bereits teilweise untersucht wurde, sind die vielschichtigen Einflüsse auf viele andere europäische Höfe, angefangen bei den französischen, österreichischen oder böhmischen, noch in systematischen Beiträgen zu klären.
Das Projekt soll als Beispiel einer Studie über die Prozesse des Transfers pädagogisch-musikalischer Praktiken und der Verbreitung beruflicher Fähigkeiten in einem ganzheitlicheren Rahmen dienen, der nicht nur MusikerInnen, sondern auch andere soziale Akteure und Akteurinnen einbezieht. Diese Forschungsarbeit würde den Erwerb und die Digitalisierung von bisher unbekannten Quellen ermöglichen, die sich in verschiedenen europäischen Bibliotheken befinden. Durch die Schaffung eines digitalen Archivs der europäischen „tartinischen“ Netze, das nicht nur der scientific community, sondern auch der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung steht, könnte ein großes Repertoire an Dokumenten und Entwürfen zur Einsichtnahme zugänglich gemacht werden. Aufgrund des internationalen Profils des Themas wird ein WEAVE-Projekt eingereicht, an dem sich PartnerInnen aus der Schweiz, Deutschland und Slowenien beteiligen.
2022 wurden folgende Anträge für Drittmittelprojekte durch die Fakultät gefördert:
Berth, Christiane: Die digitale Transformation von Arbeitswelten: Geschlechterverhältnisse, Raumorganisation und Kommunikation im Büro, 1970-2010
Kaum ein Ort hat das Arbeitsleben des 20. Jahrhunderts so stark geprägt wie das moderne Büro. Neben einem Ort der Sozialisation und der Verwaltungsroutinen war das Büro ein Ort der Interaktion zwischen Mensch und Technik. Schreibmaschinen und Telefone fanden sich seit dem späten 19. Jahrhundert an immer mehr Arbeitsplätzen. Ihnen folgten seit den 1950er Jahren Buchungsmaschinen, Diktiergeräte und Computer. Ende des 20. Jahrhunderts erlaubten kleinere Geräte und neue Kommunikationstechnologien das mobile Arbeiten, so dass einige BeobachterInnen bereits das Ende des Büros gekommen sahen. Gleichzeitig lagerten viele Firmen ihre Bürotätigkeiten in Länder des globalen Südens aus, allen voran nach Indien, das inzwischen als „Büro der Welt“ gilt. Das moderne Büro war also einerseits ein Mikroraum der alltäglichen Technikaneignung, andererseits ein Makroraum der Verhandlung globaler Arbeitsbeziehungen.
Das Projekt wird analysieren, wie sich die Nutzung digitaler Techniken auf Geschlechterverhältnisse, Raumorganisation und Kommunikation im Büro auswirkte. Dabei konzentriert es sich auf die Zeitphase zwischen den späten 1970er Jahren und der Jahrtausendwende, als PCs, Internet und Emails die Arbeitswelten einschneidend veränderten. Diese Entwicklung verlief allerdings global ungleichzeitig, da hohe Anschaffungskosten und unzureichende Infrastrukturen die Ausbreitung in einigen Weltregionen verlangsamten. Das Projekt wird die Perspektiven unterschiedlicher historischer AkteurInnen berücksichtigen, wie etwa von Büroangestellten, ManagerInnen und Gewerkschaften. Dabei sollen neben der Nutzung digitaler Techniken im Arbeitsalltag auch öffentliche Debatten analysiert werden, in die diese AkteurInnen intervenierten.
Bleier, Roman: Die Reichstage des 16. Jahrhunderts: Textberge und Textminen
Der Reichstag der Teutschen Nation ist integraler Bestandteil der vielfältigen politisch-kirchlichen Beratungskultur Lateineuropas in der Frühen Neuzeit. Wie auch andere solche Versammlungen, z. B. das englische Parlament, ist er ein Forum vormoderner politischer Repräsentation, die eine der Wurzeln des modernen Parlamentarismus bildet. Das 16. Jahrhundert ist die Zeit, in der sich der Reichstag allmählich zu einer repräsentativen Ständeversammlung (engl: representative assembly) entwickelt. Im 16. Jahrhundert wurden die Reichstage noch in unregelmäßigen Abständen an unterschiedlichen Orten von den Kaisern des Hauses Österreich einberufen. Die Verhandlungen der hochadeligen wie städtischen Vertreter, die teils persönlich anwesend waren, teils Bevollmächtigte entsandten, dauerten meist mehrere Monate.
Die Reichstagsforschung stützt sich zu einem großen Teil auf die Editionsreihen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (HiKo), in denen seit dem 19. Jahrhundert Reichstagsakten ediert werden. Bis vor wenigen Jahren erfolgte die Publikation dieser Editionen im Druck. Mittlerweile hat die HiKo jedoch mit der Retro-Digitalisierung von existierenden Bänden begonnen und die Dokumente zum Reichstag von 1576 werden erstmals als eine digitale Edition veröffentlicht. Dadurch finden Historiker*innen wie andere historisch arbeitende Disziplinen nun erstmals eine Vielzahl von elektronischen Texten der RTA-Editionen in unterschiedlicher Erschließungstiefen und unterschiedlichen Formaten, mit Metadaten und verlinkten Registern/Indizes online frei zugänglich vor. Ohne technische Erschließung wären diese ‘Textberge’ für menschliche Leser*innen nicht zu überblicken – je weiter die Erschließung fortschreitet, desto besser lassen sich künftige Forschungen daran anschließen.
Da sukzessive mehr und mehr Quellenmaterial über die Reichstage digital verfügbar wird, stellt sich die Frage, ob und wie gut diese Quellen für die historische Forschung verwendet werden können. Das zu beantragende Projekt Die Reichstage des 16. Jahrhunderts: Textberge und Textminen möchte einerseits, indem es die Teilnehmer und ihre Kommunikationsnetzwerke reichstagsübergreifend analysiert, eine empfindliche Forschungslücke schließen und zugleich für komparatistische Fragestellungen zugänglich machen; andererseits soll das Potential von Methoden der Digital Humanities und ihrer Anwendung auf dieses Textkorpus erprobt und kritisch über ihren Mehrwert für die historische Forschung reflektiert werden. Im Vordergrund steht dabei die Erschließung von zentralen Akteuren und Themen, wobei Methoden wie Named Entity Recognition (NER) und auch Linked Data eine wichtige Rolle spielen soll.
Hinger, Barbara: Lernsprachenentwicklung im schulischen Kontext. Empirische Befunde für den Unterricht moderner Sprachen
Die im Rahmen der Anschubfinanzierung der Fakultät für Projektantragstellungen geförderte Studie hat zum Ziel, den schulischen Fremdsprachenunterricht aus der Perspektive der empirischen Fremdsprachendidaktikforschung zu beleuchten. Der Fokus liegt dabei auf der Bedeutung des Spracherwerbs im unterrichtlichen Kontext und ist dem Forschungsbereich Instructed Second Language Acquisition/ISLA zuzuordnen. Analysiert wird die Entwicklung der Lernersprache von Schüler*innen in Bezug auf morphosyntaktische Phänomene der untersuchten Zielsprachen, wobei die romanischen Sprachen als zweite lebende Fremdsprache im schulischen Kontext sowie Englisch als erste lebende Fremdsprache einbezogen werden. Elizitiert werden aufgabengeleitete mündliche und schriftliche Spontanspracheproduktionen der Lerner*innen im Zeitraum von zwei Lernjahren. Damit will das Projekt die in den österreichischen Lehrplänen für die Sekundarstufe I (Mittelschulen, AHS-Unterstufen) und die Sekundarstufe II (AHS-Oberstufen) bereits seit 2004 respektive 2006 formulierte Berücksichtigung lernersprachlicher Entwicklungen im Fremdsprachenunterricht aufgreifen, einen evidenzbasierten Beitrag zu deren Beschreibung für die genannten Sprachen leisten und die Möglichkeit eröffnen, zur Schließung eines Forschungsdesiderats beizutragen, das im österreichischen Kontext bislang lediglich in wenigen, für Einzelsprachen konzipierten Fallstudien Berücksichtigung fand. Die darüber hinaus geplante Triangulierung der lernersprachlichen Datensätze mit Ergebnissen aus Unterrichtsbeobachtungen soll zeigen, ob respektive wie real stattfindender Fremdsprachenunterricht die lernersprachlichen Entwicklungsverläufe unterstützt oder diese ggf. konterkariert. Durch diese Herangehensweise versucht das Projekt auch einen Beitrag zur internationalen Diskussion des inert knowledge problem im gesteuerten Spracherwerb zu leisten und die Bereitschaft zum Dialog zwischen Forschung und schulischer Praxis zu fördern und zu stärken.
Moser, Elias: Rights in Criminal Law
Nach gängiger strafrechtlicher Auffassung ist die Einhaltung der Rechtspflichten nicht den durch das Recht geschützten Personen geschuldet, sondern dem Staat. Die Strafrechtstheorie sieht die Individuen also nicht als Inhaber*Innen normativer Ansprüche gegenüber anderen Individuen, sondern eher als Nutznießende der Beschränkungen. Dies ist primär auf zwei Ursachen zurückzuführen: Einerseits wird von Theoretiker*Innen häufig die sog. Rechtsgutslehre als Grundlage der Kriminalisierung gesehen. Dabei wird die moralische Bedeutung eines Schadens nicht auf eine Verletzung der normativen Stellung einer Person mit intersubjektiven Ansprüchen zurückgeführt. Andererseits vertreten v. a. Rechtsgelehrte im deutschsprachigen Raum oft ein enges theoretisches Verständnis von Rechten, die sog. ‚Willenstheorie der Rechte‘. Die Theorie geht davon aus, dass Begünstigte von Pflichten nur dann Rechte haben, wenn sie die Befugnis besitzen, eine Entschädigung für die Verletzung der Pflichten selbst einzufordern.
In diesem Projekt argumentieren wir, dass es entgegen dieser beiden vorherrschenden Auffassungen argumentativen und theoretischen Raum gibt, um zu aufzeigen, dass individuellen Rechten eine zentrale Rolle im Strafrecht zukommen. Ziel des Projekts ist es, die Frage nach der Möglichkeit, der Natur und den normativen Implikationen subjektiver Rechten im Strafrecht zu stellen: Ist die Verletzung von Rechten der Grund für die Kriminalisierung eines Verhaltens? Wem schulden Rechtsunterworfene die Einhaltung strafrechtlicher Bestimmungen? Die Untersuchung kann in zweierlei Hinsicht unser rechtstheoretisches und rechtsethisches Verständnis des Strafrechts schärfen.
Deskriptive Implikationen: Der Ansatz könnte einen Erklärungsrahmen für die Einwilligung in Rechtsverletzungen bieten. Die Möglichkeit, ein Verhalten mit Zustimmung zu erlauben, macht die normative Stellung einer Person zu einer zentralen Erklärungsfunktion in der Strafrechtslehre.
Normative Implikationen: Der Ansatz bietet eine alternative Betrachtungsweise für die Kriminalisierung von Verhalten. Es gibt eine moralische Bedeutung von Verbrechen, die in der Verletzung der individuellen Autonomie besteht. Daher kann die Frage, was eine Handlung zu einem Unrecht macht, von der Einbeziehung subjektiver Rechte in die Strafrechtstheorie profitieren. Zudem kann der Rekurs auf subjektive Rechte im Strafrecht einen normativen Rahmen für neue Elemente der Strafverfolgung (z. B. verfahrensrechtliche Opferrechte) und der Wiedergutmachung von Straftaten (z. B. Ansätze der sog. ‚restorative justice‘) liefern.
Dieses Projekt soll als Internationale Zusammenarbeit zwischen der Universität Graz und dem Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht im Rahmen des WEAVE-Programms (Österreichischer Wissenschaftsfonds FWF und Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG) für eine Laufzeit von 3 Jahren angesucht werden.
2021 wurden folgende Anträge für Drittmittelprojekte durch die Fakultät gefördert:
Lamprecht, Gerald: Remigration von jüdigen Emigrant_innen und Holocaustüberlebenden nach Österreich
Das geplante Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Remigration von im Nationalsozialismus vertriebenen und als jüdisch verfolgten Österreicher_innen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, im speziellen in den ersten 10 Jahren nach Kriegsende. Über 200.000 Österreicher_innen verloren während der NS-Herrschaft ihre Heimat, flüchteten ins inner- und außereuropäische Ausland oder wurden von den Nationalsozialisten verschleppt und in Lager gesperrt, über 60.000 von ihnen starben in den Konzentrationslagern. Von der 1938 etwa 170.000 Personen zählenden jüdischen Bevölkerung überlebte in Österreich nur ein kleiner Bruchteil. Ein noch erheblich kleinerer Teil – wenige tausende – entschloss sich in den Jahren nach Kriegsende, nach Österreich zurückzukehren, um hier entweder erneut eine Existenz aufzubauen, um rechtliche oderfinanzielle Angelegenheiten zu regeln und ihren rechtmäßigen Besitz wiederzuerlangen, oder eine Ausbildung in der Muttersprache zu absolvieren. In Österreich fanden die Remigrant_innen neben zerstörten Gemeinden und Existenzen auch eine vielerorts feindselige Umgebung vor und dazu Regierungen, die einer Heimkehr der Vertriebenen ebenso ablehnend gegenüberstanden, wie der Restitution geraubten Eigentums und Entschädigungen für erlittenes Unrecht.
Übergeordnetes Ziel des Projektes ist es, ein Gesamtbild der Remigration von vertriebenen jüdischen Österreicher_innen unter der Berücksichtigung der im Folgenden genannten Gesichtspunkte zu schaffen: die Rahmenbedingungen einer Remigration und die praktische Umsetzung ebendieser, die Beschreibung und Untersuchung der diversen Gruppe der Remigrant_innen und deren durchaus unterschiedlichen Erfahrungen, die Ebene der Lebenswelten und Erfahrungen dieser Remigrant_innen, deren persönliche Motivationen und die Thematik der öffentlichen Diskurse und Rezeptionen innerhalb der Gesellschaft Österreichs.
Angesichts der breit gefächerten Materie von rechtlichen Grundlagen bis zu persönlichen Erfahrungen wird es nötig sein, einen interdisziplinären Ansatz zu wählen, um das Thema unter den verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Dieser multiperspektivische Ansatz beinhaltet eine grundlegende Quellenrecherche in nationalen und internationalen Archiven, um die bereits genannten Rahmenbedingungen und deren praktische Durchführung rekonstruieren zu können. Darauf aufbauend beinhaltet der Ansatz die Verwendung persönlicher Erinnerungen in jeglicher Form sowie Medien des öffentlichen Diskurses.
Meer, Rudolf: Sentio, ergo sum et est. Alois Riehls kritischer Realismus
Die Frage, wie wir über eine bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit Wissen erlangen können, wird in der gegenwärtigen analytischen Philosophie intensiv und vielseitig diskutiert. Dabei ist der Beitrag Alois Riehls bisher fast gänzlich unberücksichtigt geblieben, obwohl dieser am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in seinem dreibändigen Werk Der Philosophische Kritizismus eine elaborierte Philosophie des Realismus entwirft, in der er sowohl einen Realismus raumzeitlicher Gegenstände, einen mathematischen Realismus, einen wissenschaftlichen Realismus und einen moralischen Realismus systematisch verbindet.
Um den Philosophischen Kritizismus wieder zu einem immanenten Bestandteil der aktuellen Forschung zu machen, ist es entscheidend, Riehls Kritizismus in seinen vielfältigen Verflechtungen mit den naturwissenschaftlichen Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts zu analysieren. Dafür werden zwei Forschungsmethoden kombiniert: ein historisch-kritischer und ein systematischer Ansatz.
Im Zuge des Projekts wird zudem das dreibändige Hauptwerk in der Reihe Philosophische Bibliothek des Meiner-Verlags neu ediert. Bis dato unveröffentlichte historische Quellen, wie der Briefverkehr mit Heinrich Rickert, Friedrich Jodl, Bartholomäus von Carneri, Hugo Münsterberg, Wilhelm Wundt, Eduard Spranger, Ernst Mach und Hans Vaihinger sowie die Aktenmaterialien der Universitäten Graz, Wien, Freiburg, Halle, Kiel und Berlin, werden dabei einen kritischen Zugang zum Text ermöglichen. Diese Studienausgabe wird eine profunde Grundlage für eine erste umfassende englischsprachige Übersetzung bieten.
Schmölzer, Sabine: Ontogenese wissenschaftlicher Textkompetenz. Zur Rolle expliziter Sprachförderung beim wissenschaftlichen Schreiben
Obwohl wissenschaftliche Textkompetenz im internationalen Kontext schon seit den 1970er-Jahren intensiv untersucht wird, ist das Wissen darüber, wie sie sich entwickelt, nach wie vor sehr bruchstückhaft. Die verfügbaren longitudinalen Studien beruhen allesamt auf Daten, die nicht unter kontrollierten Bedingungen gewonnen wurden. Insofern sind die Erkenntnisse zur Ontogenese wissenschaftlicher Textkompetenz, die aus diesen Daten abgeleitet wurden, nur bedingt dazu geeignet, kausale Aussagen über die Bedingungen zu treffen, die für einen Erwerb wissenschaftlicher Textkompetenz förderlich sind. Auf der anderen Seite stehen Interventionsstudien, deren Erkenntnisse zwar unter experimentellen oder quasi-experimentellen Bedingungen gewonnen wurden, die aber ihrerseits nur wenig über die Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz aussagen, da die ihnen zugrundeliegenden Datenerhebungen nur sehr kurze Zeiträume umfassen.
Im beantragten Projekt wird das Ziel verfolgt, einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke zu leisten. Zu diesem Zweck soll anhand einer Stichprobe von n=240 SchülerInnen eine longitudinale Interventionsstudie zur Förderung wissenschaftlicher Textkompetenz in der Sekundarstufe 2 durchgeführt werden, die sich über einen Zeitraum von drei Jahren erstreckt. Die longitudinale Intervention dient als Vorbereitung auf die Vorwissenschaftliche Arbeit und basiert auf genrebasierten Modellen zur Förderung wissenschaftlicher Textkompetenz, die in den letzten Jahrzehnten weltweit zu den meistrezipierten Ansätzen in der Didaktik des wissenschaftlichen Schreibens gehören. Im Rahmen der Studie werden die Effekte von drei unterschiedlichen genrebasierten Treatments auf die abhängigen Variablen Wissenschaftliche Textqualität, Schreibmotivation und Transfer im Rahmen von latenten Wachstumskurvenmodellen untersucht. Insgesamt kann die Studie dadurch nicht nur zeigen, wie sich die wissenschaftliche Textqualität und die Schreibmotivation unter dem Einfluss unterschiedlicher genrebasierter Schreibfördermaßnahmen über einen Zeitraum von drei Jahren entwickeln, sondern auch ob und inwiefern die im Rahmen der Intervention erworbenen Kompetenzen auf das Genre der Vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA) transferiert werden können.
Zechner, Ingeborg: Digitale Edition der Wiener Theaterchroniken von Philipp Gumpenhuber der Jahre 1758 bis 1763
Die handschriftlich und in französischer und italienischer Sprache überlieferte Theaterchronik des Wiener Hoftänzers, Choreographen und Ballettmeisters Philipp Gumpenhuber (1706–1770) stellt eine der bedeutendsten Quellen für die Kultur- und (Musik)-theatergeschichte Wiens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar. Die von Giacomo Durazzo in Auftrag gegebene Chronik erfasst für Burg- und Kärntnertortheater in den Jahren 1758–1759 und 1761–1763 u.a. den Spielplan, den Probenbetrieb sowie die Darsteller und das Personal der beiden Theater, gibt aber auch Hinweise zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen in Zusammenhang mit dem Spielbetrieb.
Das Projekt befindet sich methodisch an der Schnittstelle zwischen Digital Humanities und Historischer Musikwissenschaft und zielt darauf ab, eine innovative, wissenschaftlich-kritische Edition der Theaterchronik mittels XML-Codierung auf Basis des TEI-Standards (Text Encoding Initiative) zu erstellen. Diese Edition wird öffentlich und digital einem breiten Adressatenkreis auf einer entsprechenden virtuellen Plattform zugänglich gemacht werden. Dabei werden die Digital Humanities als Methode begriffen, die es ermöglicht aus dieser digitalen Edition neue wissenschaftliche sowie interdisziplinär nutzbare Erkenntnisse über das Wiener Theaterwesen des 18. Jahrhunderts zu gewinnen, die durch traditionelle historische Methoden in dieser Art und Weise bislang nicht erlangt werden konnten.
Das Projekt wird beim Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) als Einzelprojekt eingereicht und in einer interdisziplinären Kooperation zwischen dem Institut für Musikwissenschaft und dem Institut/Zentrum für Informationsmodellierung durchgeführt.