Diskussionen über die Sinnhaftigkeit ihres Faches ist Ursula Gärtner gewohnt. Dennoch freut sich die neue Professorin für Latinistik, dass sie sich in Graz viel seltener die Bedeutung ihres Fachs erklären muss als in Potsdam, wo sie über zehn Jahre tätig war. „Das Schulfach Latein wurde in DDR-Zeiten nahezu völlig abgeschafft“, erzählt sie. Für den Wechsel nach Österreich war unter anderem die breit aufgestellte Altertumswissenschaft ausschlaggebend. „Das war für mich sehr reizvoll, es hat sich in den wenigen Monaten auch schon eine fruchtbare Zusammenarbeit ergeben“, berichtet Gärtner. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die LehrerInnenausbildung, hier hat sie auch schon neue Initiativen gestartet. Am 18. Oktober findet der erste Lateintag an der Uni Graz statt: SchülerInnen erhalten Einblick in die Wissenschaft und die wissenschaftliche Herangehensweise an Texte in eigens auf sie zugeschnittenen Schnuppervorlesungen und -seminaren. Parallel dazu gibt es Weiterbildungsmöglichkeiten für LehrerInnen. „Wir wollen auch von den PädagogInnen Rückmeldungen zu unserer Ausbildung bekommen, um diese kontinuierlich zu verbessern“, betont Gärtner.
In ihrer Forschung beschäftigt sich die Latinistin unter anderem mit Bildsprache und der Bedeutung von Gleichnissen – vor allem in Epen. Sie versucht zu rekonstruieren, welche Vorstellung sich LeserInnen machen, wenn sie die Texte rezipieren. Besonders intensiv setzt sie sich mit den antiken Versfabeln des Phaedrus auseinander. Der Autor aus dem ersten Jahrhundert nach Christus wurde in der Wissenschaft lange Zeit stiefmütterlich behandelt, da er als Schriftsteller für die unteren Schichten galt. „Er schreibt aber sehr witzige, anspielungsreiche Gedichte“, hat Gärtner festgestellt. Phaedrus kennt die Werke seiner berühmteren Kollegen und macht sich über die hohen Ansprüche der Dichtung lustig. „In gewisser Weise handeln seinen Fabeln auch von der Dichtung selbst“, erklärt die neue Professorin. Anhand seiner Arbeit möchte sie auch SchülerInnen die Vielschichtigkeit von Literatur näherbringen, die im regulären Unterricht im Regelfall nicht vermittelt wird. „Latein ist nicht tot, sondern die Sprache von lebendigen Texten, die nach wie vor aktuell sind und an denen es immer noch Neues zu entdecken gibt“, resümiert Gärtner.
Mittwoch, 05.10.2016