Ohne gesellschaftliche, soziale, politische oder persönliche Reibungspunkte schafft es wohl kaum ein Roman auf die Beststeller-Liste. Einer, der Zeit seines Lebens von der Konfrontation und ihrer Dynamik fasziniert war und sich in seinem Werk umfassend mit diesem Phänomen beschäftigte, war Heinrich von Kleist (1777-1811). Der deutsche Dramatiker und Erzähler, dessen eigenes Leben stets auf den triumphalen Durchbruch ausgerichtet war, jedoch alles andere als glücklich verlief und schließlich im Doppelselbstmord endete, thematisiert immer wieder Auseinandersetzungen in verschiedenen Ausprägungen.
„Das Gewaltpotenzial, das in uns allen schlummert und nur auf den entsprechenden sozialen Kontext für seine Entfesselung wartet, ist ein zentrales Leitmotiv bei Kleist. Wie kaum ein anderer Schriftsteller versteht er es, die Logik der Konflikteskalation mit ausgeprägtem Gespür für psychologische Vorgänge abzubilden. Dabei können selbst ursprünglich nichtige Anlässe am Ende zur absoluten Selbst- und Fremdvernichtung der Parteien führen“, schildert Michael Ackerl mit besonderem Bezug auf die Novelle „Michael Kohlhaas“ (1810). Darin nimmt ein bis dahin gut situierter und unbescholtener Pferdehändler das Recht selbst in die Hand, um ein ihm widerfahrenes Unrecht zu sühnen – mit fatalen Folgen. Michael Ackerl arbeitete in seiner Diplomarbeit aus Germanistik die Parallelen zwischen wiederkehrenden narrativen Elementen in Kleists Erzählungen und empirischen Befunden der modernen Konflikt- und Aggressionsforschung heraus. Sein Beitrag wird im heurigen Jahrbuch der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft erscheinen. Aus diesem Grund erhielt Michael Ackerl die „Auszeichnung für eine qualitätsgesicherte Veröffentlichung“ der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, die am 11. Juli 2018 von Dekan Michael Walter überreicht wurde.
Vor mehr als 200 Jahren brachte Heinrich von Kleist die Novelle „Michael Kohlhaas“ zu Papier. „Tatsächlich stellt dieses Werk eine Art kausal-psychologisch motiviertes Lehrstück eines Eskalationsprozesses dar. Dessen erschütternde Realitätsnähe wurde erst viel später durch die Sozialpsychologie sichtbar gemacht“, erklärt Michael Ackerl. Rund 170 Jahre nach der Veröffentlichung von „Michael Kohlhaas“, im Jahr 1980, zeichnete der Wiener Konfliktforscher Friedrich Glasl in seinem Neun-Phasen-Modell den Weg eines Konflikts von den ersten Reibungspunkten („win-win“) über sich zunehmend verhärtende Positionen („win-lose“) bis hin zur gegenseitigen Vernichtung der Kontrahenten („lose-lose“) nach. „All diese Stufen werden schon von Kleist treffend und nachvollziehbar geschildert, es ist ein werkübergreifendes Handlungsschema“, bestätigt Michael Ackerl. Die zentrale Stellung von Glasls Stufe fünf, dem „Gesichtsverlust“, betont der 31-Jährige als besonders wichtige Schlüsselstelle im Eskalationsgeschehen. „Diese Phase markiert in Kleists Erzählungen stets einen fatalen Wendepunkt. Auf der Motivebene sehen wir das durch das häufige Erblassen, Rot-Werden oder Ans-Fenster-Treten von Figuren“, führt der Germanist aus.
Dass Kleist menschliche Aggression sowie ihre Erscheinungsformen im persönlichen und gesellschaftlichen Kontext so gut verstand, ist mit ein Grund für seinen posthumen Weltruhm. Zu Lebzeiten war er damit aber seiner Zeit voraus: „Weder in der zu Ende gehenden Weimarer Klassik noch in den Anfängen der Romantik konnte der Schriftsteller mit seinem irrational-destruktiven Plotmuster und den oft exzessiven Gewaltdarstellungen für nachhaltige Resonanz sorgen. Obwohl Kleist auch BewunderInnen hatte, überwog bei seinen Schriftsteller-Kollegen die Ablehnung. Besonders Goethe reagierte auf die Werke des jungen Dichters mit Unverständnis und Geringschätzung“, fasst Michael Ackerl zusammen. „Dennoch kann Kleist uns auch heute noch sehr viel über Konflikte erzählen: Wie sie entstehen, welche Auswüchse sie annehmen und wie sie schließlich enden können, wenn die nötigen Schritte zur Deeskalation ausbleiben.“