Befinden wir uns gerade in einer Zeitenwende? Ist der Begriff mit Blick auf die Geschichte stimmig?
Barbara Stelzl-Marx: Natürlich wissen wir es immer erst retrospektiv. Aber wir können schon heute davon ausgehen, dass der russische Angriff auf die Ukraine als Zeitenwende in die Geschichte eingehen wird, als Beginn eines neuen Kalten Kriegs. Manchmal wird eine Zeitenwende auch ausgerufen, denken wir an die Jahrtausendwende oder die Corona-Pandemie. Im Nachhinein hat sich dann herausgestellt, es hat doch nicht so bedeutende Spuren hinterlassen.
Christiane Berth: Mithilfe digitaler Tools können wir sehen, dass der Ausdruck im gesamten 20. Jahrhundert Konjunktur hat. Das nimmt seinen Anfang in den 1920er-Jahren, erlebt eine weitere Hochphase während des Zweiten Weltkriegs, ebenso wie 1989 und boomt zum Anfang des 21. Jahrhunderts.
Angesichts des Stakkatos an Ereignissen gewinnt man den Eindruck, in den vergangenen 100 Jahren habe es ständig nur Umbruchsphasen gegeben.
Berth: Deshalb haben wir für den Titel des Österreichischen Zeitgeschichtetags den Plural gewählt. Mit dem ergänzenden Begriff „Wendezeiten“ wollen wir auf Veränderungsprozesse schauen, die länger gedauert und sich im Verborgenen angebahnt haben. Es gibt auch Jahrzehnte, die als Dekade der Wende bezeichnet werden, wie etwa die 1970er-Jahre für das Umweltbewusstsein.
Stelzl-Marx: Dazu kommt, dass etwa von den beiden Weltkriegen besonders viele Menschen betroffen waren. Während früher Ereignisse lokal begrenzt waren, hat die Globalisierung im 20. Jahrhundert die Wirkung verstärkt.
Berth: Es heißt ja auch, dass die Zeitgeschichte für Zäsuren besonders anfällig ist. Wir versuchen daher eine Einordnung vorzunehmen. Das ist nicht immer einfach, weil, wie schon erwähnt, manches Mal Umbrüche vorschnell als Zeitenwende bezeichnet werden oder einen politischen Hintergrund haben.
Hatte also der deutsche Kanzler Olaf Scholz recht, als er vor zwei Jahren von einer Zeitenwende sprach?
Berth: Wir haben es aktuell mit einer ungewöhnlichen Häufung an Krisen zu tun, die globale Auswirkungen gezeigt haben. Das hat dazu geführt, dass die Bezeichnung in unseren Alltag eingedrungen ist.
Stelzl-Marx: Die aktuelle Bedeutung wird dadurch untermauert, dass andere Sprachen wie das Englische „Zeitenwende“ als deutsches Lehnwort übernommen haben. Wichtig ist außerdem, dass die Verwendung von der jeweiligen Perspektive abhängt. Zum Beispiel ist das Jahr 1938 aus österreichischer Sicht bedeutsamer als 1939, das hingegen Deutschland mit dem Beginn des Weltkriegs prägte. In der ehemaligen Sowjetunion wiederum stellt der Überfall Hitlers 1941 einen Bruch dar.
Gibt es eine allgemein gültige Definition?
Stelzl-Marx: Der deutsche Historiker Martin Sabrow beschreibt das sehr gut. Demzufolge ist Zäsur ein punktuelles Ereignis. Bei einer Zeitenwende handelt es sich um einen großen Einschnitt, in dem sich in unterschiedlichsten Bereichen auf Dauer etwas ändert.
Berth: Bei einer Zeitenwende häufen sich besonders viele Zäsuren. Das macht letztendlich die Wahrnehmung aus: Ab jetzt ist alles anders.
Der Österreichische Zeitgeschichtetag vereint nun viele dieser Themen. Worauf freuen Sie sich besonders?
Stelzl-Marx: Es ist ein dichtes Programm geworden, an dem alle heimischen Universitäten mit dem Bereich Zeitgeschichte vertreten sind. Mehr als 250 Teilnehmer:innen sind angemeldet, darunter viele Nachwuchswissenschaftler:innen sowie arrivierte Forscher:innen.
Berth: Die Konferenz widmet sich auch der Vermittlung von Geschichte, etwa über Tik-Tok. Die Medienvielfalt ergänzen weiters Soundperformances, also Klangbeispiele, die Eindrücke von historischen Veränderungsprozessen wiedergeben.