Im Jahr 2013 sorgte der „Fall Gurlitt“ weltweit für Aufsehen: In der Münchner Wohnung des Cornelius Gurlitt, Sohn von Adolf Hitlers Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, kam eine millionenschwere Kunstsammlung mit verschollenen Werken und nationalsozialistischer Vergangenheit ans Tageslicht. Der Fall beschäftigte jahrelang KunstexpertInnen und Justiz. „Während des Nationalsozialismus wurden politisch und ,rassisch‘ verfolgte Menschen und Institutionen ihrer Besitztümer beraubt“, erklären die beiden Grazer ForscherInnen Dr. Birgit Scholz und Dr. Markus Helmut Lenhart. „Darunter befanden sich nicht nur wertvolle Kunstobjekte, sondern auch Bücher und ganze Bibliotheken, die entweder direkt beschlagnahmt wurden oder fluchtbedingt zurückgelassen werden mussten.“
Über Gestapo, Oberfinanzprokuratur, „Judenauktionen“ oder Tausch, Geschenke und Antiquariate gelangte das „NS-verfolgungsbedingt entzogene Buchgut“ auch an öffentliche Bibliotheken wie etwa die Universitätsbibliothek Graz. Dort beschäftigt man sich seit 2011 in Kooperation mit der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz Wien-Graz in einem eigenen Projekt mit dem Thema und versucht augenscheinlich betroffene Bücher den BesitzerInnen oder ihren Nachfahren zurückzugeben. Insgesamt 127 Bücher konnten bereits restituiert werden, darunter auch 21 an die Enkelinnen des Nobelpreisträgers Otto Loewi. „Der Karl-Franzens-Universität geht es darum, im Nationalsozialismus begangenes Unrecht wieder gut zu machen“, betont Rektorin Univ.-Prof. Dr. Christa Neuper. Bei der Tagung „Was bleibt? Bibliothekarische NS-Provenienzforschung und der Umgang mit ihren Ergebnissen“ am 12. und 13. Juni 2017 an der Uni Graz wird öffentlich darüber diskutiert, wie mit den Resultaten der Provenienzforschung weiter verfahren werden soll. „Durch die Provenienzforschung und mit der Tagung leistet die Universität Graz einen wertvollen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung“, so Univ.-Prof. Dr. Peter Scherrer, Vizerektor für Forschung und Nachwuchsförderung.
Rund 33.000 Erwerbungen der Jahre 1938 bis 1945 an der Hauptbibliothek und 55.000 bis 1945 erschienene Bücher, die im Bestand von Fach- und Institutsbibliotheken sind, wurden von Birgit Scholz und Markus Helmut Lenhart in den vergangenen sechs Jahren durchgesehen. Die Bücher gelangten auf ganz unterschiedlichen Wegen an die Uni Graz und wurden auf Vermerke von VorbesitzerInnen hin analysiert. Mithilfe von Matrikelbüchern, Personenregistern und historischen Meldekarten sowie genealogischen Datenbanken und anderem mehr konnten die Nachfahren der Beraubten bis nach Australien zurückverfolgt werden. Die bestmögliche Verwertung der Erkenntnisse dieser aufwändigen Recherche ist auch Thema der Grazer Tagung: Der Bogen spannt sich von der Rekonstruktion ehemaliger Bibliotheken über den Mehrwert von Provenienzforschung bis hin zu Möglichkeiten einer effizienten Dokumentation von Arbeitsergebnissen und Öffentlichkeitsarbeit. ExpertInnen aus dem deutschsprachigen Raum berichten über ihre Forschungen. Rob Tausk, der Enkel von Martha Tausk – sie war die erste weibliche Abgeordnete des steirischen Landtags – wird über das persönliche Erinnern, das durch die Rückgabe des Buches erweckt wird, erzählen.
„Was bleibt? Bibliothekarische NS-Provenienzforschung und der Umgang mit ihren Ergebnissen“
Wann? Montag und Dienstag, 12. und 13. Juni 2017, ab 14 Uhr
Wo? Zentrum für Weiterbildung, Harrachgasse 23/II, 8010 Graz
Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung nicht erforderlich
Infos unter http://www.nachkriegsjustiz.at/aktuelles/termine_index.php