Der Antisemitismus ist in der Türkei gelebte Realität. Er ist in der Türkei seit mindestens 15 Jahren, seit dem Zeitpunkt an dem eine pro-islamische Regierung an die Macht gekommen ist, hörbar und fühlbar, meint der Türkei-Experte Kerem Öktem vom Zentrum für Südosteuropa-Studien an der Universität Graz. Obwohl die aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden im 15. Jahrhundert im Osmanischen Reich Schutz suchten, ist ihre Beziehung heute zu ihrer Heimat Türkei gespalten. Die Zahl von jüdischen Türken ist stark geschrumpft. Waren es 100.000 im Jahr 1948 sind es heute nicht einmal mehr 15.000 Menschen jüdischen Glaubens, die in der Türkei vor allem in den Ballungszentren leben. In seinen Forschungen hat Kerem Öktem die Motive der Flucht aus der Türkei und Migration in Länder wie USA, Kanada, Frankreich und vor allem Israel versucht nachzuzeichnen. Die relativ junge Community dieses Forschungsfeldes traf sich im Sommer an der Universität Graz und tauschte sich im Rahmen einer Tagung unter dem Titel „Türkisch-Jüdische Lebenswelten“ aus.
Die Gezi-Bewegung und der Begriff „Taksim“ stehen in der Türkei seit 2013 für Auflehnung gegen das politische Establishment. Mehr als zwei Millionen Menschen haben damals ihren Unmut kundgetan, mehr als 300.000 Menschen aus der Mittelschicht haben der Türkei seit dem ihren Rücken zugedreht. „Darunter auch sehr viele Jüdinnen und Juden“, weiß Öktem, „die vor allem dem wachsenden Antisemitismus in der Türkei entflohen sind.“ Obwohl es im Islam keinen religiös angelegten Judenhass gibt, wurde er während des zweiten Weltkrieges durch die Nazis, durch deutsche Propaganda in die Türkei importiert. „Durch die Staatsgründung von Israel auf islamischen Boden wurde der Antisemitismus dann auch durch islamistische Gruppen aufgenommen“, erklärt der Türkei-Experte. „Er ist also im politischen Islam vor allem politisch, nicht rassisch begründet, was ihn aber nicht weniger aggressiv macht.“ Durch die AKP-Regierung Erdogans ist der politische Antizionismus auch in höhere Gesellschaftsschichten durchgedrungen. Vor allem durch die aktuelle Wirtschaftskrise in der Türkei ist er nun omnipräsent geworden.
Vieles hat sich auf die anti-jüdische, anti-israelische Rhetorik eingeschworen. „Wirtschaftliche und politische Probleme werden auf die so genannte jüdische Lobby abgewälzt, was schlussendlich zu dieser starken Migrationswelle aus der Türkei geführt hat“, sagt Öktem. Viele JüdInnen haben sich in Israel niedergelassen und es hat sich dort regelrecht eine türkisch-jüdische Gemeinschaft etabliert. „Verglichen mit Graz, in der es ja auch eine türkische Diaspora gibt, ist die Gemeinschaft türkischer Juden in Israel viel älter.“ Zudem unterstützt der Staat die Integration mit zahlreichen Maßnahmen. Die jüdischen Türken reden türkisch, konsumieren türkische Medien, leben ihre türkisch-jüdische Identität und generieren eine neue Lebenswelt, die Öktem in seinen Forschungen analysiert.
Eine Rückkehr ist für die meisten vorerst ausgeschlossen, zumindest solange die Türkei ihren Weg nicht zurück in die Demokratie gefunden hat. Und die Juden, die in der Türkei geblieben sind, führen das Gemeindeleben weiter, sogar in der kleinen Aschkenasischen Synagoge, die von Wiener Juden in Istanbul 1909 gegründet wurde.