„Ein heißer Spaß“ war das Schreiben für Lou Andreas-Salomé (1861–1937). Die Schriftstellerin, Psychoanalytikerin und Kosmopolitin aus einer russisch-deutschen Familie wurde bekannt durch ihr literarisches Schaffen und verkehrte in Zürich, Rom, Berlin und Wien in Zirkeln von Intellektuellen und KünstlerInnen, unter anderem mit Nietzsche, Wedekind, Hauptmann und Rilke. Mit über zehn Auflagen wurde ihr 1895 erschienener Roman „Ruth“ zu ihrem persönlichen Bestseller. Die nationalsozialistische Herrschaft und der zweite Weltkrieg sorgten jedoch dafür, dass sie und ihre Werke in Vergessenheit gerieten – ein Schicksal, das sie mit vielen Autorinnen ihrer Zeit teilte. Dass einige von ihnen wiederentdeckt wurden und uns neue, faszinierende Einblicke in alte Zeiten eröffnen, ist engagierten LiteraturwissenschafterInnen wie Brigitte Spreitzer von der Universität Graz zu danken. Bereits in ihrer Habilitation „Texturen. Die österreichische Moderne der Frauen“, erschienen 1999 im Böhlau-Verlag, hat sie österreichische Autorinnen zwischen 1880 und 1930 wieder in die Literaturgeschichte eingeschrieben. Im April 2021 gab Spreitzer Lou Andreas-Salomés Roman „Das Haus“ (Erstausgabe 1921) mit einem detailreichen Kommentar neu heraus. 2017 hatte sie Else Jerusalems Skandal-Rotlichtroman „Der Heilige Skarabäus“ (Erstausgabe 1909) und 2014 Gedichte, Prosa und Übersetzungen von Anna Freud (1895–1982) kommentiert und editiert. „Was mich an diesen für lange Zeit vergessenen AutorInnen besonders interessiert, ist die Verbindung von Literatur und Psychoanalyse: Wie verarbeiteten Sie die neue Sicht auf den Menschen in ihren Werken?“, sagt Spreitzer, selbst Germanistin und Psychotherapeutin.
Das Aufdecken der Macht des Unbewussten mit der Erkenntnis, „dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“, wie Sigmund Freud es formulierte, veränderte das Verständnis vom Individuum grundlegend. Um 1900 bewegte die Psychoanalyse Intellektuelle und KünstlerInnen. Von Anfang an interessierten sich auch Frauen für die innovativen Ideen, studierten bei Freud und waren als Analytikerinnen tätig. „Die Psychoanalyse bot ihnen eine Möglichkeit der Beteiligung am modernen Diskurs“, so Spreitzer. Viele dieser Frauen waren auch schriftstellerisch tätig – kein Zufall, meint die Germanistin und verweist auf Parallelen zwischen Psychoanalyse und Literatur sowie auf Sigmund Freuds Äußerung, dass seine Krankengeschichten wie Novellen zu lesen seien.
Unbewusstes
Die Einsichten der Psychoanalyse finden in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts in innovativen Erzähltechniken, aber auch auf der inhaltlichen Ebene ihren Ausdruck. Hier stellt Spreitzer einen Unterschied zwischen Autoren und Autorinnen fest: „Während die männliche Avantgarde Innensicht und Seelenzerfaserung in neue literarische Formen zu fassen versuchte, wollten Frauen vor allem politisch und sozialkritisch sein. Formal-ästhetische Ansprüche traten dabei zunächst in den Hintergrund.“ Das lasse sich aus dem sozialen Kontext erklären: „Frauen hatten im öffentlichen Leben sonst kaum Möglichkeiten, sich eine Stimme zu verschaffen.“ Weniger formale Modernität in der Schreibweise war wohl mit ein Grund, warum sie lange Zeit nicht in den Kanon der deutschen Literatur aufgenommen wurden, obwohl sie zu ihrer Zeit durchaus bekannt waren.
Neu entdeckt
Nachdem sich ihre Spuren in der Zeit des Nationalsozialismus verloren hatten, begaben sich erst in den späten 1970er- und 1980er-Jahren LiteraturwissenschafterInnen wieder auf die Suche nach ihnen. Viele dieser vergessenen Autorinnen wurden mittlerweile wieder einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Neben Lou Andreas-Salomé und Else Jerusalem zählen zu ihnen unter anderem Marta Karlweis (1889–1965), Maria Lazar (1895–1948), Mela Hartwig (1893–1967) und Veza Canetti (1897–1963). Mit ihrer Sicht als Frau auf das Leben und die Gesellschaft nach 1900 überraschen sie uns heute noch mit neuen Facetten dieser Zeit des Umbruchs.